Hamlet als letzter Europäer, das Martyrium von Gisèle Pelicot, Horrortrips in „Gyntania“ oder ein Hauch von „Babylon Berlin“. Im Jahr 2025 hatten die Theater wieder einiges zu bieten, von umwerfenden Klassikerinszenierungen bis zu fantastischen Soloabenden. Und auch die Extremkünstlerin Florentina Holzinger taucht mit einem fulminanten Bühnen-Shitstorm wieder auf. Ein Blick auf zwölf Höhepunkte des Theater-Jahres.
„Play Auerbach!“ (Münchner Kammerspiele)
Deutschland, 2045: Als ein Jude in die Proben zu einer deutsch-jüdischen Erinnerungsrevue platzt, bricht Chaos aus. Weder die deutsche Laienspieltruppe noch die Leiterin, eine Antisemitismusbeauftragte, wissen weiter. Und wer war eigentlich Philipp Auerbach, der heimliche Star des Abends? „Play Auerbach!“ von Avishai Milstein ist das witzigste, böseste und klügste Stück über das deutsche Erinnerungstheater des Jahres, von Sandra Strunz mit einem fantastischen Ensemble auf die Bühne gebracht.
„Peer Gynt“ (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin)
Was hat die Kritik über diesen „Peer Gynt“ alles geschimpft! Zu männlich, zu gewalttätig, zu lang, zu 2000er. Doch der achtstündige Trip nach „Gyntania“ ist ein Meisterwerk zwischen Comic, Trash-Oper und Commedia dell’Arte fürs 21. Jahrhundert. Mit ihrer stilprägenden Ästhetik feiern die Extremkünstler Vegard Vinge, Ida Müller und Trond Reinholdtsen ihr großes Berlin-Comeback. Ibsens „Faust des Nordens“ wird zu einer fiebrigen Bewusstseinsreise ins Herz der Finsternis unserer Zeit. Läuft wieder im Mai!
„De Profundis“ (Berliner Ensemble)
Aus Hamburg ist Schauspielstar Jens Harzer („Babylon Berlin“) im Herbst ans Berliner Ensemble gekommen und stellt sich dem Hauptstadtpublikum mit einem fulminanten Soloabend vor. Mit dem Briefessay „De Profundis“ der Dandy-Ikone Oscar Wilde stürzt sich Harzer in ein existenzielles Drama, in dem es um nicht weniger als Kunst, Liebe und Erlösung geht. Und wenn das jemand überzeugend spielen kann, dann der Gefühlsgedankenzauberer Harzer, der mit diesem Abend Berlin im Sturm erobert.
„Der Prozess Pelicot“ (Wiener Festwochen)
Wenn Milo Rau nicht gerade mit peinlichen Briefen zu Nahost hausieren geht oder von ehemaligen FPÖ-Politikern verklagt wird, macht er tatsächlich Theater. Drei Stücke brachte der 48-jährige Schweizer allein bei den von ihm geleiteten Wiener Festwochen dieses Jahr auf die Bühne: Elfriede Jelineks „Burgtheater“, „Die Seherin“ und – mit Servane Dècle – „Der Prozess Pelicot“. Aus dem realen Gerichtsprozess gegen die Vergewaltiger von Gisèle Pelicot wird eine kompromisslose Konfrontation mit dem Bösen.
„Krieg und Frieden“ (Theater Magdeburg)
Der Schauspieler Charly Hübner, der sich als Kommissar Bukow in die Herzen des deutschen Fernsehpublikums gespielt hat, hat am von der Kritik hochgelobten Theater Magdeburg sein Debüt als Theaterregisseur gegeben – mit Tolstois „Krieg und Frieden“. Knapp 1500 Seiten packt Hübner in nur vier Stunden, und ein paar unbeschönigte Einblicke in die Bundesrepublik auf dem Weg in die „Kriegstüchtigkeit“ mit Grill- und Rap-Einlage noch obendrauf. Großartig! Wer vermisst da noch Bukow im „Polizeiruf“?
„Hamlet“ (Deutsches Schauspielhaus Hamburg)
Selbst wenn sich der inzwischen 74-jährige Frank Castorf beim Regieführen wenig Mühe gibt, ist er trotzdem mühelos auf einer reflexiven Flughöhe unterwegs, die im Theater selten geworden ist. So dachte man schon bei „Dantons Tod“ in Dresden, aber auch bei seinem „Hamlet“ in Hamburg, beide mit einem kräftigen Schuss Heiner Müller versetzt. Der Volksbühnenveteran zeigt den Shakespeare-Helden als letzten Europäer, zerrieben zwischen den Großmächten dieser Zeit: dem Silicon Valley und der Volksrepublik China.
„Der Tartuffe“ (Burgtheater Wien)
Viele Höhepunkte hatte das Wiener Burgtheater dieses Jahr nicht zu bieten. Neben Wolfgang Menardis „Richard III.“ mit Nicholas Ofczarek und Roboterhund gehörte Barbara Freys düstere Inszenierung von „Der Tartuffe“ dazu, mit Bibiana Beglau und Michael Maertens. Aus Molières Klassiker wird eine tragische Parabel über Täuschung und Heuchelei. Die Welt will betrogen sein, lautet die bittere Pointe des Abends, der mit allen Stärken eines psychologischen Schauspielertheaters zu glänzen vermag.
„Der zerbrochne Krug“ (Residenztheater München)
Das Münchner Residenztheater hat dieses Jahr mit Uraufführungen von Franz Xaver Kroetz („Gschichtn vom Brandner Kaspar“) und Rainald Goetz („Lapidarium“) groß aufgefahren. Begeistert hat aber auch ein Klassiker, der in Bayern Abiturstoff ist: „Der zerbrochne Krug“ in der Regie von Mateja Koležnik. So präzise wurde Heinrich von Kleists komische Posse über den irrlichternden Dorfrichter Adam lange nicht mehr gelesen und inszeniert, auch als aktueller Kommentar zur neuen Wehrpflicht.
„Bauern, Bonzen und Bomben“ (Staatsschauspiel Dresden)
Die 1920er-Jahre haben gerade Konjunktur: Börsenkrach, Wirtschaftskrise, Demokratiedämmerung und Klassenkampf sind auf den Theaterbühnen wieder angesagt. „Babylon Berlin“? Kann das Theater längst, wie Tom Kühnel mit seinem temporeichen Hans-Fallada-Abend „Bauern, Bonzen und Bomben“ zeigt, der nicht zuletzt Erinnerungen an die Bauernproteste gegen die „Ampel“-Koalition weckt. Man muss das Theater nicht immer neu erfinden, gut erzählte Geschichten tun es auch!
„Die Möwe“ (Barbican Centre London)
Als Thomas Ostermeier in Berlin „Die Möwe“ inszenierte, riss es die Kritik nicht aus den Sesseln. Ganz anders, als der Intendant der Schaubühne kurz darauf den Klassiker noch einmal auf die Bühne brachte – dieses Mal in London. Das lag nicht zuletzt an dem bis in die kleinste Nebenrolle hochkarätig besetzten Ensemble, allen voran Hollywood-Star Cate Blanchett in der Rolle der alternden Schauspieldiva Arkadina. So unterhaltsam und gedanklich scharf hat man lange keinen Tschechow mehr gesehen.
„Fräulein Else“ (Volkstheater Wien)
Es gibt kaum noch Preise, die dieser Soloabend dieses Jahr nicht abgeräumt hat. Julia Riedler, von „Theater heute“ zur Schauspielerin des Jahres gekürt, macht aus Arthur Schnitzlers Novelle ein unberechenbares Spiel mit dem Publikum. Die Inszenierung von Leonie Böhm setzt zwar bei den Themen MeToo und toxischer Männlichkeit eher auf Altbekanntes und Leichtverdauliches als neue Erkenntnisse, doch der Auftritt von Riedler bleibt als schauspielerisches Wagnis der Selbstentblößung im Gedächtnis.
„A Year without Summer“ (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin)
Muss Florentina Holzinger denn in jeder Jahresbestenliste auftauchen? Warum stattdessen nicht zur Abwechslung das wundervolle Volksbühnen-Comeback von Christoph Marthaler („Wachs oder Wirklichkeit“)? Doch mit „A Year without Summer“ gelingt der Wiener Skandalchoreografin ein Abend, der bildgewaltiger ist als ihre vorherigen. Dazu gibt es den fulminantesten Bühnen-Shitstorm der Theatergeschichte, und zwar im wörtlichen Sinne. Das darf man schon würdigen.
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