Alle Monate ein neuer Roman. Jede Woche ein neuer Film. Das Erzählen kann kein Ende nehmen. Und nie hat man genug an den Geschichten, die man alle kennt und die uns immer wieder faszinieren. Nur die Kunst schweigt. Versteckt sich in ihren Zeichen. Schwelgt in Gesten. Blüht in Farben. Hat nichts zu erzählen.

War das nicht mal anders? Damals, als sie das vorzügliche Erzählmedium war. Bewundert, verehrt, konkurrenzlos. Hätte sich die Weihnachtsgeschichte so tief ins kollektive Bewusstsein graben können ohne die zugehörigen Bildergeschichten. Ohne Stall, Krippe, Ochs und Esel?

Gut tausend Jahre lang haben Maler und gelegentlich auch Malerinnen vom Himmel erzählt und von der Hölle, von Reichen und von Armen, von Sündern und Engeln, vom stolzen Leben am Hof und vom mühsamen Leben auf dem Land. Die zugehörige Literatur kam eher zögerlich. Lesen konnten ja nicht viele. Aber Bilder ließen sich herumtragen, aufstellen, wegstellen, verbieten, verehren, zerstören, erzählen.

Auch wenn die Kirchenväter skeptisch blieben, zur Unterweisung in Glaubenssachen leisteten die Erzählbilder treue Dienste. Wäre eine Vorstellungszumutung wie die Auferstehung von den Toten überhaupt denkbar ohne die Lichtphantasien über dem geöffneten Grab? Und waren die Bilder an der Wand nicht immer die sinnlichste Lösung für die Rätsel der unsichtbaren Dinge?

Das galt bis ins späte 19. Jahrhundert hinein. Längst war der Bedarf an heiligen Geschichten gedeckt. Aber auch ohne Himmel und Hölle bot sich die Welt in schierer Erzählfülle dar. Im Pariser Salon spreizten sich die Maler wie die Pfauen, und hatten alle was zu erzählen. Erzählten vom Familienfrühstück im Wohnzimmer, vom Spaziergang im Mohnfeld, von der Kahnfahrt auf der Seine, vom Liebesglück im Gartenpavillon, von der Quellnymphe, die man im Bois de Boulogne entdeckt hat und von der Eisenbahn, die durch die Landschaft dampft.

Man hätte durchaus erwarten dürfen, dass es so immer weitergehen würde, und die Maler demnächst von Operationsrobotern und Kernfusionsreaktoren erzählen würden. Aber es ist so nicht gekommen. Alles war mit einem Mal zu Ende. Und das erscheint noch immer durchaus bedenkenswert. Zumal es den gut unterhaltenden Roman zum Thema Operationsroboter und Kernfusionsreaktor mit Sicherheit gibt oder geben wird. Nur eben keine Bilder, die uns den Roman erzählen.

Bruch mit der Narration

Es ist ja gut überliefert, wie die Kunst ihre uralten Traditionen losgeworden ist. Wie ihr die Gegenstände mit einem Mal fremd vorkamen. Wie sie begann, sich in Gleichnisse zu verwandeln, in Chiffren zu verstecken, von der Welt nur noch metaphorisch, in Formen, in Farben, malerischen Gebärden zu handeln. Endlich frei vom Erzähldienst zurück an den Nullpunkt der künstlerischen Erfahrung und von dort auf ins völlig unerschlossene visuelle Wunderland der Abstraktion. So die Parole.

Jeder Museumsbesucher weiß, mit welch beispiellos viraler Geschwindigkeit die Parole weitergegeben worden ist. Und mit welcher Radikalität zuweilen die Künstler ihre Werk- und Lebensläufe umgebogen haben. Ein paar Jahre lang hatte Julius Bissier gemalt, was vor ihm war. Die Blumen auf dem Tisch, die Frachtkähne auf dem Rhein. Dann kam der Bruch. Dann hat er nur noch gemalt, was in ihm war. Mit seinen wie verwackelte chinesische Schriftzeichen anmutenden Tuschzeichnungen ist er weltberühmt geworden.

Natürlich gab es Widerstand, Opponenten allerlei Geschlechts, die sich wehrten gegen den imperialen Sog der Abstraktion und weiter mit den Erzählgegenständen hantieren wollten. Aber auch ein Maler wie Max Beckmann, der mit stabiler Renitenz die Zeitstile verachtete, hat seine beschädigten Figuren in Szenen eingeschlossen, die lauter Spuren des nacherzählerischen, des modernen Denkens und Empfindens zeigen. Und wenn auch immer mal wieder die eine oder andere „postmoderne“ Rückkehr proklamiert worden ist – bis in die Zeitkunst hinein, dann blieb und bleibt sie doch nie mehr ganz frei vom schlechten Moderne-Gewissen.

Selbst ein Neo-Altmeister wie der Leipziger Maler Michael Triegel löst mit seinen Altarbildern in Cranach-Nachfolge eher Befremden aus. Kunst erzählt nicht mehr. Und sie zählt nicht mehr, wenn sie nicht ihr kritisches Verhältnis zur kulturellen Tradition und zur gesellschaftlichen Gegenwart bekennt. Anders nimmt man ihr die Behauptung nicht mehr ab, zeitgenössisch zu sein.

Dass die Kunst dabei in ungezählte Erscheinungsformen zerfallen ist und ihr Schicksal mehr und mehr darin sieht, auf die ständig wechselnden Modi des politischen und sozialen Lebens reflektieren und reagieren zu müssen, hat so wenig ausbleiben können wie ihre längst unüberschaubare Selbstmultiplikation.

Was ist aus unserem Bedarf an Erzählungen geworden?

Andererseits darf sich die Kunst auf die Fahnen schreiben, mit „Abstraktion“ das Codewort der Moderne geliefert zu haben. Es ist nicht falsch, wenn man der nicht erzählenden Kunst bescheinigt, die sinnlichen Vorleistungen für den zivilisationsgeschichtlichen Schub des Jahrhunderts erbracht zu haben. Abstraktion ist eben doch viel mehr als bloß Stil, mehr als künstlerische Methode. Es ist eine Weise des gegenstandsungebundenen, des entwerfenden und vorausgreifenden Erkennens, Empfindens und Handelns, aus der alle technologischen Triumphe und gesellschaftlichen Katastrophen unserer Epoche resultieren.

So gesehen ist es nur folgerichtig, dass die Gegenwartskunst ihre Gegenwärtigkeit als Handlungsform begreift, sich mehr und mehr mit der visuellen Signatur des Lebens vermischt und vollends in der visuellen Umwelt aufzugehen scheint. Aus dem Erzählen ist unumkehrbar sinnliches Denken geworden.

Doch aus unserem Bedarf an Erzählungen, was ist daraus geworden? Betroffen vom Pathos letztmöglicher Abstraktionen, überwältigt von der unendlichen Multiplikation ästhetischer Ereignisse, hat man längst vergessen, dass man vom Bild mal das variantenreiche Spiel mit den Welt- und Lebensgegenständen erwartet hat. Nur eine Ahnung ist geblieben, dass da möglicherweise auch etwas verloren gegangen sein könnte. Anders wäre der ungebremste Massenerfolg gar nicht erklärbar, der noch jede Ausstellung zur Kunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zur prognostizierbaren Sensation macht.

Die Literatur, der Film, sie erzählen immer noch, erzählen immer wieder. Erzählen von vielem und am liebsten von der Liebe. Auf ihre eigene Weise natürlich. Neusprachlich, zeitstilig, diskursaktuell. Also anders als Flaubert, anders als Fontane damals von der Liebe erzählt haben. Aber immer noch sind die Geschichten unterhaltsam, belehrend, anrührend, erschreckend. Nur wenn man von Bildern Liebesgeschichten erwartet, dann muss man weit zurück in die Flaubert- und Fontane-Zeit.

Auch Weihnachten, sagen sie, handele von der Liebe. Die Geschichte ist so unsterblich wie die Bilder, die die Geschichte einst erzählt haben. Und kein Siegeszug der gegenstandslosen Vernunft hat sie aus der Erinnerung löschen können. Was ist nur an den uralten Erzählbildern, dass sie sich allen Verschleißerscheinungen zum Trotz pünktlich alle Jahre wieder einstellen?

Mit Emoji und Meme ist es eben bis heute nicht getan. Ohne Stall und Krippe, Ochs und Esel, ohne die seltsamen Überlebenden aus den Archiven der prämodernen Erzählkunst geht es nicht. Und Weihnachten abstrakt geht schon gar nicht.

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