Soll man traurig sein über den Tod eines 93-Jährigen, mit dem und seinem langjährigen Partner man bestens gelaunt noch vor fünf Monaten bei Wiener Freunden zum Essen saß? Der lachte, scherzte, klatschte, gerne frivole Witze riss, der genussvoll aß und trank und der sich immer wieder für ein Zigarettchen auf den Balkon verzog? Der gerade an der Staatsoper noch einmal mit seinem schon 1979 bahnbrechenden, Video und Raumwechsel miteinbeziehenden Tanzstück „Live“ für eine einzige Ballerina einen rauschenden Erfolg gefeiert hatte?

Natürlich nicht. Weil dieses erste Videoballett in Echtzeit mit einer Protagonistin, einem Kameramann und einer Großprojektion auch heute, wo so etwas längst Tänzeralltag ist, immer noch frisch und aufregend rüberkommt. Vor allem aber, weil Hans van Manen, der neben dem jüngeren, einst der Stuttgarter John-Cranko-Schmiede entsprossenen Choreografen-Trio John Neumeier, Jiří Kylián, William Forsythe, bedeutendste Tanzschöpfer der Gegenwart, sein langes, überwaches Leben in vollen Zügen gelebt und genossen hat.

Weil er sehr genau wusste, dass auch er endlich ist. Eine Legende, ein Zeitgenosse, ein Klassiker. Der „Mondrian des Tanzes“ wurde er, der die Niederlande erst auf die Weltkarte des Tanzes gebracht und in einer eher bewegungsfernen Nation ein Ballettwunder des späten 20. Jahrhunderts entfacht hatte, immer neu ehrend tituliert.

Seinen Werkkatalog von über 150, zum großen Teil zeitlosen Stücken, hat er schon vor einigen Jahren für vollendet erklärt. Er hatte alles gesagt und tanzen lassen, sein Beitrag zum Weltkulturerbe war abgeschlossen. Nun ließ er sich nur noch feiern und ehren, nicht nur in den Niederlanden, wo die mit van Manen befreundete Königin-Mutter Beatrix ihn jetzt als „einen ihrer größten Künstler“ rühmte: „Verspielt, leicht und klar ließ er uns die Vollkommenheit in seinen virtuosen Balletten erleben. Wir erinnern uns mit Liebe, Bewunderung und Dankbarkeit an ihn und werden ihn sehr vermissen.“

Bis zum Schluss war Hans van Manen vor allem mit immer neuen Einstudierungen seiner Ballette präsent. Bei denen er meist letzte Hand anlegte, staunte, wie immer neue Tänzergenerationen in ihnen aufblühten, sie zeitlos weiterbestehen ließen, mit stetig neuem Leben erfüllten.

Hans van Manen und sein meist hinter der Videokamera stehender Mann Henk van Dijk haben schon vor einigen Jahren ihre große Amsterdamer Grachtenwohnung zugunsten eines kleineren, alterspraktischeren Appartements aufgegeben. Seine Kunstsammlung, auch die eigenen, bedeutungsvollen Fotografien sind längst dem Rijksmuseum gestiftet worden. Und am wichtigsten: Über das choreografische Hans-van-Manen-Erbe wird ein Kreis von Vertrauten und das Dutch National Ballet wachen, die Kompanie, die durch sein Œuvre am stärksten geprägt wurde.

„Weniger ist mehr“, war sein Leitspruch. Fusselfrei, auf die Essenz reduziert. So war Hans van Manen, der privat so dandyhaft wie barock-überbordend sein konnte, schon immer in seiner Kunst. Und mehr noch: Lange vor unseren Genderdebatten hat er etwa Männer in Röcke wie Frauenkleider gesteckt. Bei ihm waren Tänzer erstmals nackt, er zeigte konsequent auch im Duo tanzende Männer, und stets waren eigentlich die Frauen bei ihm die Stärkeren. Ein Geschlechterkämpfer vor der Zeit, der solches nie vorhatte. Der sein Schwulsein ohne jeden Aktivismus zeigte.

Sein riesiges Œuvre ist kaum gealtert. Früh schon ließ er immer mehr Ausstattung weg, Handlungsballett hatte ihn sowieso kaum interessiert, ihm war der menschliche Körper das wichtigste Spielmaterial. Er entlockte ihm unendlich viele Bewegungsmöglichkeiten, erdachte Kombinationen wie Konstellationen mit anderen. Mal auf Spitze, mal im Schläppchen, bisweilen barfuß. Das Interagieren zwischen Männern und Frauen – eigentlich: zwischen Menschen –, das fand Hans van Manen aufregend und beflügelnd.

Hans van Manen hat für Stars genauso schön und ausdrucksstark choreografiert wie für Kinder („Unisono“). Denn seine Kunst war stets die der Reduktion auf das Wesentliche. Klar und deutlich sind seine Linien, ausgewogen ist seine Eroberung des Raums, klug und luzide ist seine poetische Durchdringung der Musik. Und das alles kommt meist ganz beiläufig daher. Man merkte kaum, wie gut Hans van Manen wirklich ist.

Dennoch war es ein langer Weg, Hans van Manen ist ihn konsequent gegangen. Geboren wurde er am 11. Juli 1932 in Nieuwer Amstel als Sohn eines früh gestorbenen Holländers und einer liebevollen Deutschen, die ihn von klein auf die Achtung der Frauen auf Augenhöhe lehrte. Ausgebildet als Theaterfriseur und Maskenbildner, begann er erst als 19-Jähriger mit dem Tanzen. Dann aber mit aller Vehemenz. Er trat bei Sonja Gaskells Ballet Recital und bei Roland Petit auf (ein Film zeigt ihn sogar an der Seite von dessen Star Zizi Jeanmaire).

1955 debütierte er als Choreograf mit „Olé, Olé, la Margarita“. Seine dritte Kreation, „Feestgericht“, wurde bereits mit dem Staatspreis für Choreografie ausgezeichnet. 1959 war er in der Gründungsmannschaft des Nederlands Dans Theatre. Im Ausland baute er eine starke Bindung zum Stuttgarter Ballett auf, später auch zu Martin Schläpfers Ballett am Rhein und in Wien.

Seine besondere Persönlichkeit ist zum Glück in vielen Interviews und Dokumentationen festgehalten. Van-Manen-Stücke wie „Große Fuge“, „Adagio Hammerklavier“, „Oktett“ oder „Five Tangos“ zählen sowieso zum eisernen Bestand des neoklassischen Tanzrepertoires.

„Ich habe nie nachgedacht, einfach nur angefangen und gemacht“, stapelte er niedrig. Hans van Manen ist in seinem über sechzig Jahre langen kreativen Suchen modern, zeitlos, vertraut, immer neu geblieben. Ihm gelang neoklassisches Ballett in Reinkultur. Wer aber entwickelt die Klassik weiter? Oder ist sie zu Ende? Das sind Fragen, die sich auch ein aufmerksamer 93-Jähriger stellte. Der nun doch, am 17. Dezember in Amsterdam, die Ballettbühne dieser Welt endgültig verlassen hat.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke