Es besteht kein Zweifel, dass die Vergewaltigung stattgefunden hat. Zwar sehen wir sie nicht, sie bleibt die Lücke, der Off-Screen-Horror, der umso bedrohlicher den Mechanismen menschlicher Erinnerung und Verdrängung ähnelt, je mehr er sich der Wahrnehmung entzieht. Schon Kleist hat in „Die Marquise von O…“ mit seinem berühmten Gedankenstrich versucht, die sexualisierte Gewalt über die Abwesenheit in den Griff zu bekommen.
Doch wo die Auslassung in vielen Erzählungen dazu dient, Skepsis zu erzeugen, Unsicherheiten und Ambivalenzen aufrechtzuerhalten, steht in „Sorry, Baby“ die Sache von Anfang bis Ende fest: Der Literatur-Professor Preston Decker (Louis Cancelmi) hat seine Doktorandin Agnes (Eva Victor) zum Sex gezwungen. Dieser Film ist so entschieden aus Agnes’ Sicht erzählt, dass er sich für die männliche Perspektive oder Alternativinterpretationen kaum interessiert. Das ist gut so. Was anderen Regisseurinnen langweilig, sentimental und moralisierend geraten könnte, verwandelt Victor, die auch hinter der Kamera verantwortlich war, in eine unfassbar humorvolle, mühelose und, ja, leichtherzige Tragikomödie.
Man mag es kaum glauben: „Sorry, Baby“ ist ein Feelgood-Film über eine Vergewaltigung. Oder eher: über das Leben danach. Das Heilen, nicht das Sich-Rächen wie in „Promising Young Woman“ oder anderen Rape-Revenge-Thrillern steht im Vordergrund. „Sorry, Baby“ ist kein Er-sagt-sie-sagt-Experiment, das um die richtige Deutung und Erkenntnis ringt, sondern ein feinfühliges Bemühen um Selbstbehauptung, nachdem einem etwas „sehr Schlimmes“, wie Agnes es einmal formuliert, passiert ist.
Nach Schwergewichten wie dem Yale-Instituts-Drama „After the Hunt“ mit Julia Roberts und dem Machtmissbrauchs-Drama „Tár“ mit Cate Blanchett war es an der Zeit, frischen Wind in das akademische Umfeld zu bringen. „After the Hunt“ floppte vor wenigen Wochen trotz Star-Ensemble und Promi-Regisseur Luca Guadagnino an den Kinokassen und ließ die Kritiker enttäuscht zurück – zu ernst nahmen sich die allesamt unsympathischen Figuren in ihrer behaupteten Wichtigkeit, während sie Adorno zitierten, die „Buddenbrooks“ lasen und Agamben plagiierten. Und dann fliegt, wie um das flaue Kinojahr noch auf den letzten Metern zu retten, fast filmreif „Sorry, Baby“ aus den USA ein – und überrascht alle.
Dabei hätte man mit einem Knaller rechnen können, schließlich steckt A24 hinter dem Film. Also jenes Produktionsstudio, das heutzutage in Dating-Profilen als Ausweis guten Geschmacks auftaucht, so wie man dort früher noch Regisseurnamen wie „Kaurismäki“ oder „Godard“ platzierte. A24 steht für erfolgreiche Genre-Mischungen, mit denen sich eine gebildete, selbstreflektierte und junge Zielgruppe schmückt.
Originelle Lässigkeit
Die fünf Filmkapitel sind – ähnlich wie die Erinnerung, die jederzeit unerwartet hervorbrechen kann – nicht chronologisch angeordnet. Sie spielen mal in dem Landhaus, in dem Agnes als Professorin lebt, und mal in dem Familienhaus, in dem sie als Doktorandin ihren Professor besucht. Häuser spielen allgemein eine große Rolle in dem Drama, als Orte des Rückzugs, die auch Orte des Eindringens sein können. Wir sehen die Behausungen von innen und außen, tags und nachts, wie sie beschützen und bedrohen. Die erste Viertelstunde rätselt man, ob man es vielleicht sogar mit einem Horrorfilm zu tun hat, so uneindeutig sind die ästhetischen Register, die Victor zieht.
Das Debüt der 1994 geborenen Regisseurin, die in einer Dreifachrolle auftritt und auch fürs Drehbuch und die Golden-Globe-nominierte Schauspielleistung verantwortlich zeichnet, erinnert nicht nur wegen der äußeren Ähnlichkeit Eva Victors mit Phoebe Waller-Bridge an die britische Dramedy-Serie „Fleabag“. Es ist auch der zwischen Trauer, Witz und Unbeholfenheit changierende Ton, der sich in beiden Darstellungen weiblicher Verletzlichkeit und gleichzeitiger Resilienz wiederfindet. Agnes ist zu klug, um durch den Übergriff wirklich dauerhaft zerstört zu sein, aber vor allem ist sie zu lustig, zu frech und zu ungeniert. Wie sie mit der Verletzung umgeht, hat man so noch nicht gesehen: Da ist kein Verdrängen, Ästhetisieren, Überdramatisieren. Weder nutzt Victor das Trauma als Kunstgriff, wie es Drehbuchwerkstätten als notwendiges, die Figuren charakterisierendes Plot-Element lehren. Noch schlachtet sie das Trauma als alles bestimmendes Hintergrundrauschen aus, das jede Szene, jeden Satz und Blick mit existenzieller Erschütterung belegt.
Agnes bleibt Agnes, mit all der für sie charakteristischen Ironie und Gelassenheit. Sie kann Nähe zulassen, etwa zu ihrer besten und schwangeren Freundin Lydie (Naomi Acki) oder ihrem süßen Nachbarn Gavin (Lucas Hedges), mit dem sich eine auf Ehrlichkeit fußende Liebesgeschichte andeutet, später auch zu Lydies Baby, bei dem sie sich dafür entschuldigt, es nicht vor dem Leid dieser Welt bewahren zu können. Vor allem aber zeichnet sich Agnes durch ihre fehlende Scham aus. Nach dem Vorfall geht sie wie nach Protokoll die institutionellen Stationen durch, findet sich beim Arzt oder der Fakultätsleitung wieder.
Nur einzelne Szenen wie die im Krankenhaus, wo Lydie dem unbeholfenen Arzt passiv-aggressiv seine angeblich wenig einfühlsame Reaktion vorhält, wirken abgedroschen. Gelungener erscheint hingegen die Gerichtsszene: Als Geschworene wird Agnes befragt, ob sie selbst schon mal Opfer eines Verbrechens war. Ihre Hand schnellt in die Höhe, einen Augenblick später senkt sie sie wieder. Sie könne über diesen „schlimmsten Alptraum“ nicht sprechen, erklärt sie, wolle außerdem den Täter, der Vater eines Kindes sei, nicht ins Gefängnis bringen, was ihn schließlich nicht davon abhalten würde, weiter dasselbe Verbrechen zu begehen. Agnes argumentiert, dass sie aufgrund dessen, was ihr passiert sei, wohl nicht unparteiisch urteilen könne. Der Richter liest daraufhin dem gesamten Saal den Fragebogen vor, den sie zuvor ausgefüllt hatte. „Wie würden Ihre Freunde Sie beschreiben?“ Dahinter steht das Wort „schlau“, durchgestrichen und ersetzt durch das Wort „groß“.
Mit der unbekümmerten Art, mit der Agnes hier und auch später vielen Personen, die sie trifft, von dem schrecklichen Ereignis erzählt (ohne es explizit zu benennen), setzt die Literaturwissenschaftlerin, die im Seminar „Lolita“ vor ihren Studierenden verteidigt, einen neuen Ton. Freiheraus bindet sie sogar einem Fremden, mit dem sie auf der Straße zusammenstößt, ihre Vergangenheit auf, etwas, was im Jugend-Jargon wahrscheinlich als „Trauma-Dumping“ bezeichnet würde. Doch bei Agnes hat das ungefragte Sich-Mitteilen nichts Übergriffiges oder Vorwurfsvolles. Das Trauma gehört zu ihrem Leben, so wie ihre Katze, die sie sich bald als Trostspender zulegt.
Diese originelle Lässigkeit, die sich nicht davor fürchtet, unangenehme Gefühle zu kommunizieren, schwebt angenehm heiter zwischen dem postmodern-ironischen Dauer-Zynismus auf der einen Seite und dessen Gegenbewegung, der sogenannten „New Sincerity“, also der aufrichtigen Hingabe ans Gefühl auf der anderen Seite. Agnes bekennt sich zu ihren Emotionen, aber weigert sich, sich von ihnen beherrschen zu lassen. Ein Trauma ist eben auch nur ein Trauma. Ein Gefühl nur ein Gefühl. Ein Übergriff nur ein Übergriff. Das „nur“ in diesem charmantesten Film der Saison verharmlost nicht, sondern weist den Weg in einen Überlebensmodus, der das Leben betont.
„Sorry, Baby“ läuft ab dem 18. Dezember im Kino.
Dieser Artikel stammt aus der Guest Edition der WELT AM SONNTAG von Andreas Gursky, einem der berühmtesten Fotografen der Welt. Sie können dieses einzigartige Sammlerstück hier bestellen.
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