Auf dem Zauberberg wird wahnsinnig viel geredet. Aber seien wir ehrlich: Wer so viel redet, der hat vermutlich gar keine Zeit, zu gesunden. Das ist vielleicht die Natur des Sanatoriums: Es macht reden. Auch in Anna Prizkaus Debütroman „Frauen im Sanatorium“ wird viel geredet – oder besser: Es wird erzählt. Wie Scheherazade, die Tausend und eine Nacht lang um ihr Leben erzählen muss, um ihren verbitterten Königsmann bei Laune zu halten, erzählt Anna im Sanatorium Geschichten.

Adressat ist dabei vor allem ein Kurpark-Flamingo namens Pepik – die besten Zuhörer sind oft die stummen –, dessen Existenz schon andeutet, worum es in dem Roman geht: die vermeintliche Opposition von Wirklichkeit und Illusion. „Frauen im Sanatorium“ wird von der Frage getragen, ob das narrative Ordnen des eigenen Lebens wirklich Heilung stiftet – oder ob es nicht allein neue Illusionen erzeugt.

Anna ist im Sanatorium, weil sie nicht mehr kann. Sie hat das Weinen verlernt, schon vor langer Zeit, als sie der Vater in eine dunkle Badezimmerkammer sperrte, wenn sie zu weinen begann. Irgendwann hatte das Mädchen alle Tränen ausgeweint. Zum Beispiel über das Entlieben der Eltern, die gemeinsam nach Deutschland kamen, aber emotional getrennte Wege gingen. Von dem Vater, dessen Liebhaberinnen sich vor der Wohnungstür ansammelten.

Liebe, so lernt die kleine Anna, ist ein seltsames Spiel. Passt man nicht auf, treibt sie einen in den Wahnsinn. Annas Alltag im Sanatorium wird durch unzählige Therapieangebote strukturiert, deren wichtigster Teil die unvermeidliche Gruppengesprächstherapie ist. Dass das Erzählen heilen kann, das ist die Grundannahme der Psychotherapie. Doch trifft das auch auf Anna und die anderen Frauen zu?

Im Sanatorium leben weitere Frauen, die mit der Liebe ringen. Elif, die ihren Liebsten auf tragische Weise verloren hat und die sich Märchen ausdenkt – noch eine Scheherazade. Sie erzählt aber nicht, sie schreibt, überführt also das Märchen in seine Schriftform. Fixiert sie damit die Lügen? Die Geschichten, die Elif in ihrem Notizbuch über die Mitpatientinnen notiert, scheinen nicht ganz der Wahrheit zu entsprechen.

Dann ist da Marija, die von ihrer toten Mutter verfolgt wird und damit leben muss, dass sie ihr, die als Intellektuelle in die sibirische Verbannung geschickt wurde, nie genug sein konnte. Und die Soldatin Katharina, die ihr Trauma in Wodka ertränkt.

Doch die Geschichten dieser Frauen werden stets in der Steigerung erzählt. Sind sie schon für sich genommen – womöglich – keine zuverlässigen Erzählerinnen, so potenziert sich die Unzuverlässigkeit, da Elif ihre Geschichten – womöglich – verdreht und Anna die Geschichten – womöglich – falsch weitergibt. Aus psychotherapeutischer Sicht übrigens ist der Wahrheitsgehalt der erzählten Geschichten gar nicht entscheidend: Welche Position sich das Subjekt in der Geschichte selbst zukommen lässt, das ist das Entscheidende.

Gilt dasselbe für die Literatur? Immerhin wird in der Namensgleichheit von Erzählerin und Autorin bereits das alte Problem des autofiktionalen Schreibens aufgerufen: Wie viel Autorenwahrheit enthält dieser Text? Tappt man in die Falle, wenn man Erzählerin und Autorin gleichsetzt?

Mitunter steht man vor einer verschlossenen Tür

Prizkau ist ebenso wie ihre Anna Mitte, Ende 30 und kam als Kind mit den Eltern aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland; die Sprachstruktur des Russischen scheint auch den Stil von Prizkaus Sätzen geprägt zu haben. Anna Prizkau hat zuletzt den autobiografisch gefärbten Erzählungsband „Fast ein neues Leben“ veröffentlicht. Sie schreibt eine ruhige, klare, in ihren Formulierungen mitunter eigenwillig interessant funkelnde Prosa, die sich nun auch in ihrem Debütroman wiederfindet.

Man liest diesen Roman – einen Ausschnitt trug sie 2021 beim Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt vor –, sehr gerne, gelegentlich auch ein wenig ratlos. Gerne, weil er in teils eigenwillig-originellen Wortschöpfungen erzählt, und doch nicht affektiert wirkt (was bei dem Thema leicht hätte passieren können). Dass es sich um eine Meditation über das Geschichten-Erzählen handelt, leuchtet unbedingt ein. Und sicher ist es kein Zufall, dass die Männer schweigen (etwa der Therapeut Fauner), während die Frauen über und um ihr Leben erzählen.

Mitunter aber wird man das Gefühl nicht los, am Text abzugleiten und denkt, man müsse einen Textschlüssel überlesen haben und stehe nur deshalb vor verschlossener Türe wie Kafkas Mann vom Lande. Vielleicht aber muss auch die Ich-Erzählerin Anna mit der Autorin so verschwimmen, dass mitunter eine formale Unschärfe entsteht. Dem Roman selbst tut das keinen Abbruch: Ihm reicht das Erzählen um des Erzählens willen, um die elegante Erkundung eines seelischen Ausnahmezustandes zu schaffen.

Anna Prizkau: „Frauen im Sanatorium“. Rowohlt Hundert Augen, 304 Seiten, 24 Euro.

Dieser Artikel stammt aus der Guest Edition der WELT AM SONNTAG von Andreas Gursky, einem der berühmtesten Fotografen der Welt. Sie können dieses einzigartige Sammlerstück hier bestellen.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke