Betritt man dieser Tage das Osservatorio der Fondazione Prada in Mailand, fühlt man sich an einen Aquariumsbesuch im Zoo erinnert. Die Künstlerin Hito Steyerl hat für ihre Ausstellung „The Island“ die Fenster, durch die man sonst auf die Galleria Vittorio Emanuele II und den weltberühmten Dom schaut, vollständig abgehängt. In der Dunkelheit leuchtet eine Unterwasserlandschaft. Dahinter vier Bildschirme im TikTok-Format mit Interviews über Archäologie, Quantenphysik, Biochemie und Science-Fiction. Die Besucher der Eröffnung reagieren befremdet: Was bitte machen die Wissenschaftler in einer Kunstausstellung? Bei Steyerl wird die Irritation zum Konzept.
Ob sich die Besucher von der Videokünstlerin Steyerl, die in Kunstwelt-Rankings regelmäßig auf den vordersten Plätzen landet, etwas Knalligeres erwartet haben? Volle Ladung Gegenwartskunst: einfach konsumierbar und für Instagram fotografierbar? So einfach macht es Steyerl einem nicht. Also setzt man sich die Kopfhörer auf und schaut sich durch die Interviews.
Ein Quantenphysiker spricht vom kreativen Jonglieren mit Atomen. Ein Archäologe erzählt von einer Ausgrabung vor der kroatischen Küste, mit Überresten aus dem Neolithikum. Und so kann man sich zusammenreimen, dass es in „The Island“ um mögliche und unmögliche, untergegangene oder noch zu schaffende Welten geht.E
Im permanenten Kampf ums Dasein
Einer von den Interviewten ist der 1930 geborene Darko Suvin, Verfasser der bahnbrechenden „Poetik der Science-Fiction“ und Begründer der Science-Fiction-Studies. Als Kind im heutigen Kroatien erlebte er eine rasche Folge politischer Regimewechsel, sodass er sich sein Leben lang einen Sinn für die radikale Kontingenz menschlichen Seins bewahrt hat. Und um die geht es auch in dem utopischen Genre der Science-Fiction, das im 20. Jahrhundert seine Blüte erlebte. Heute, so Suvin, ist die Science-Fiction nur noch der arme Cousin einer reichen Familie der Fantasy. Und die ist, wie „Game of Thrones“, eher dystopisch veranlagt: als permanenter Kampf ums Dasein.
Erleben wir im 21. Jahrhundert die Austreibung der Utopie aus der Gegenwartskunst? Steyerl wählt als Projektionsraum die kroatische Küste: So wird Dubrovnik, Drehort von „Game of Thrones“, seit Jahren von Fans der Hit-Serie überrannt, während vor der nur zwei Stunden entfernten Insel Korčula – abseits der Touristenströme – eine völlig andere Vorzeit als in der Serie freigelegt wird. In Steyerls hochassoziativen Verweissystem darf man außerdem an die „Korčula Sommerschule“ denken, bei der sich zwischen 1963 und 1974 wichtige Linksintellektuelle aus Ost und West trafen, um ihre sozialen Utopien zu diskutieren. Von heute aus betrachtet mag das weiter entfernt wirken als die Steinzeit.
Ein Stockwerk höher ändert sich die Szenerie, das Publikum wird vor einer großen Leinwand mit Kinostühlen willkommen geheißen. Es läuft ein wilder Essayfilm, in dem der Schauspieler Mark Waschke als Laserschwert-bewaffneter Wiedergänger des Science-Fiction-Helden Flash Gordon gegen eine „braune Flut“ aus KI-generierten Memes der Marke „Italian Brainrot“ in den Kampf zieht. Die Interviews aus der unteren Etage begegnen einem hier in Ausschnitten wieder, als wollte Steyerl den Zuschauern verdeutlichen, dass ohne „Science“ auch heute keine „Fiction“ zu machen ist. Oder dass wer vom Wirklichen nicht sprechen möchte, auch vom Möglichen zu schweigen habe.
Auf der Suche nach Atlantis
Wie bereits in ihren vorigen Arbeiten, von denen einige unter dem Titel „Der Menschheit ist die Kugel bei einem Ohr hinein und beim anderen herausgeflogen“ noch bis April 2026 im Wiener Museum für angewandte Kunst zu sehen sind, untersucht Steyerl so konsequent wie sonst niemand die aktuellen Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Kunst. Die 1966 in München geborene Künstlerin zeigt, wie statistische Bildgebungsverfahren der generativen KI und das Imaginäre dieser unter der Kontrolle großer Tech-Konzerne maschinell produzierten Bilderwelten zusammenhängen. Trotz transhumanistischer Erlösungsfantasien des Silicon Valley gleichen sie eher einer Dystopie als Utopie.
In „The Island“ haben sich die utopischen Versprechen der Kunst des 20. Jahrhunderts in ihr Gegenteil verkehrt. Kapitalistischer Surrealismus oder KI-Dada sind hier die neue Avantgarde aus dem Geiste der Oligarchie. Und die Kunst? Sucht inmitten der um sich greifenden Zweckirrationalität Unterschlupf in der Rationalität der Wissenschaft.
So entwirft Steyerl in „The Island“ ein Programm für eine neue Science-Fiction des 21. Jahrhunderts, die sich von der schrillen Ästhetisierung eines katastrophischen Zerfalls von Gesellschaft verabschiedet. Als müsste die Kunst abtauchen, auf der Suche nach einem mystischen Atlantis, das unter einer sinnzerstörenden Bilderflut begraben wurde.
Wo die Ruinen der Utopie heute vielleicht noch zu finden sind, lässt Steyerl auch anklingen: im polyphonen Chorgesang, mit idyllischer Adriaküste im Hintergrund. Im Chor kommen verschiedene Stimmen zusammen, ohne von einer einzelnen beherrscht zu werden. Eine vom Untergehen bedrohte menschliche Kulturtechnik der Einheit in der Differenz? Jedenfalls haben selbst die KI-Algorithmen (noch) ihre Schwierigkeiten, Chormusik zu generieren.
Mit „The Island“ zeigt Steyerl wie in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Medium Hot. Bilder in Zeiten der Hitze“, dass sie mit ihren hyperreflexiven Videoessay-Installationen auf der Höhe der Zeit ist. Und der etwas spröde Beginn täuscht: Steyerls Kunst ist auch dieses Mal wieder überraschend witzig.
„The Island“ von Hito Steyerl ist bis zum 30. Oktober 2026 im Osservatorio der Fondazione Prada in Mailand zu sehen.
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