Zutiefst vom Volksbildungsgedanken der Weimarer Republik beseelt, lud der Lehrer Johannes Böse die Bewohner der Stadtrandsiedlung Hamburg-Langenhorn zur Kunstbetrachtung in seine Privatwohnung ein. Bald darauf stellte er Originalkunstwerke in der Siedlungsschule aus und gründete schließlich 1925 die Griffelkunst-Vereinigung mit 79 Mitgliedern. Gewiss hätte der ambitionierte Pädagoge es sich nicht träumen lassen, dass sein kleiner Verein ein Jahrhundert später zum größten Grafik-Verleger der Welt werden und rund 4500 Mitglieder verzeichnen würde.
Wie alle guten Ideen basiert auch Griffelkunst auf einem einfachen, bis in die Gegenwart beibehaltenen Prinzip: Der Volksschullehrer lud von ihm geschätzte Künstler dazu ein, ihre Motive als Druckgrafiken zu entwickeln. Diese Originalblätter bot er dann seinen Vereinsmitgliedern, deren Beitrag eine Reichsmark im Monat betrug, zum Selbstkostenpreis an. „Johannes Böse dachte: Ich setze mich viel mehr mit einem Kunstwerk auseinander, wenn ich es mit nach Hause nehme und damit lebe“, sagt Dirk Dobke, seit 2010 Geschäftsführer der Hamburger Griffelkunst-Vereinigung.
Mit dem Vereinsbeitrag (derzeit 200 Euro jährlich), erwirbt jedes Mitglied automatisch ein Kunstwerk pro Quartal. Zweimal im Jahr werden die wählbaren Grafiken in 90 sogenannten Ortsgruppen bundesweit ausgestellt. Die Mitglieder treffen ihre Auswahl vor den Originalen und können zusätzlich weitere Einzelwerke oder ganze Mappen kaufen. „Wir drucken immer so viele Blätter, wie von den Mitgliedern bestellt werden“, so Dobke, „unsere Auflagen sind also nicht von vornherein limitiert“.
Alle Künstler erhalten ein Pauschal-Honorar von 8500 Euro – unabhängig von der Auflagenhöhe. Laut Satzung vermittelt die Griffelkunst „relevante zeitgenössische Positionen“ und ist damit keiner Kunstrichtung verpflichtet. Wie heterogen das Programm über die Jahrzehnte hinweg aussah, offenbart sich jetzt in der Ausstellung, mit der öffentliche Sammlungen in Hamburg und Bremen das Jubiläum würdigen.
Hamburg und Bremen feiern das Griffelkunst-Jubiläum
In der Hamburger Kunsthalle sind 470 Werke zu sehen, das Spektrum der vorgestellten Künstler reicht von Conrad Felixmüller bis zu Daniel Richter, von Horst Janssen bis zu Nan Goldin, von Gretchen Wohlwill bis zu Jenny Holzer. Seit 1964 trifft eine Jury die Auswahl der Künstler, die der Verein publiziert. „Es ist ein Zusammenspiel von berühmten Namen und Namen, die noch berühmt werden“, sagt Kunsthallendirektor und Jury-Mitglied Alexander Klar über die Griffelkunst-Grafiker.
Mit der Ausstellung feiert das Museum zugleich den 60. Jahrestag seiner eigenen Vereinsmitgliedschaft. Die Verbindung lag nah: Böses Vorbild war Alfred Lichtwark, der Gründungsdirektor der Kunsthalle in Hamburg. „Wir wollen nicht ein Museum, das dasteht und wartet, sondern ein Institut, das tätig in die künstlerische Erziehung der Bevölkerung eingreift“, schrieb der Pionier der Museumspädagogik. Auch die Griffelkunst definiert ihr Tun bis heute als Bildungsauftrag.
Allerdings blieb der Lehrer, anders als Lichtwark, dem Realismus verpflichtet. „Böses Auswahl der Werke war subjektiv, aber sie traf einen breiten Zeitgeschmack“, so Griffelkunst-Geschäftsführer Dobke: „Es gab auch Einflüsse der Moderne, diese blieben jedoch moderat. Sein Programm war eher bodenständig.“
Dieses im Wesentlichen vormoderne Kunstverständnis erleichterte es dem jungen Verein, sich ab 1933 mit den Nazis zu arrangieren: „Böse opponierte nicht gegen die neuen Machthaber, sondern kooperierte mit ihnen. Er lavierte sich geschickt durch die veränderten gesellschaftspolitischen Verhältnisse“, erläutert Dobke.
Dies bedeutete einerseits, dass der Vereinsgründer einige linientreue Künstler vorstellte. Andererseits publizierte er jedoch ungehindert weiterhin Werke der Hamburgischen Sezessionisten, etwa von Willem Grimm, Ivo Hauptmann, Karl Kluth oder Friedrich Ahlers-Hestermann, deren Arbeiten von den Nazis als „entartet“ diffamiert wurden. Dem Lehrer scheint es vorrangig darum gegangen sein, den Bestand seiner Sache zu sichern, um den Vereinsmitgliedern weiterhin ausgewählte Originalgrafiken anbieten zu können.
Die Werke der Ausstellung illustrieren chronologisch den Werdegang der Griffelkunst. Dabei zeigt sich, dass es keineswegs bei der Realismus-Lastigkeit der Anfangsjahre geblieben ist. Als Böse 1955 starb, übernahm zunächst seine Tochter Gerda die Leitung. Nach ihrem Rücktritt 1963 wurde die Vereinsstruktur reorganisiert und die Jury einberufen. Mit diesem Schritt hielt auch die Avantgarde Einzug: Experimentelle Künstler wie KP Brehmer, Sigmar Polke, Gerhard Richter – und in der aktuellen Auswahl Jonathan Meese – gestalteten Griffelkunst-Grafiken.
Gegenposition zum Kunstmarkt
Ab 1971 trat die Fotografie neben die Druckgrafik. Den Anfang machten die Lichtbilder „Silo Kühlturm“ und „Hochspannungsmast Hochofen“ von Hilla und Bernd Becher. Auch historische Editionen erschienen in loser Folge, etwa Neuauflagen von Man Ray, László Moholy-Nagy, Carl Blossfeldt oder Alexander Rodtschenko. 2005 wurden als weitere Neuerungen Multiples ins Programm genommen, also vervielfältigte Skulpturen. Darunter sind der Hartbleiguss eines stehenden Mannes von Stephan Balkenhol oder Suse Bauers gurkenförmige Keramiken.
Böse wollte den Zugang zur Kunst demokratisieren. Anfangs wurden nur Personen im Verein aufgenommen, deren Einkommen das Gehalt eines mittleren Beamten nicht überstieg. Heute besteht diese Einschränkung nicht mehr, doch eine weitere Regel ist nach wie vor gültig: „Die Mitglieder dürfen ihre Werke nicht verkaufen. Wir sind eine Gegenposition zum Kunstmarkt“, erklärt der Geschäftsführer. „Doch bei tausenden Blättern in 100 Jahren gelangt immer mal etwas auf den Markt, jedes Kunstwerk verbreitet sich, das liegt in der Natur der Sache.“
Zu den traditionellen, 2018 von der Unesco zum immateriellen Weltkulturerbe erklärten Handdruck-Verfahren Kupferstich, Radierung, Holzschnitt und Lithografie kamen seit Mitte der 1960er-Jahre Siebdruck und Offsetdruck. Das Prinzip Griffelkunst beruht klassischerweise auf einer Kooperation zwischen Künstler und Drucker, die der Verein vermittelt. Eine Ausnahme sind die genähten Zeichnungen von Michaela Melián, deren Landschaften aus Garn auf Papier bestehen und nicht von einer Druckerei, sondern von einer Stickerei angefertigt wurden.
Dennoch sind sie im ursprünglichen Wortsinn „Griffelkunst“: Den Vereinsnamen hat Böse von dem Leipziger Symbolisten Max Klinger übernommen, der seine Papierarbeiten unter dieser Bezeichnung zusammenfasste. In der Ausstellung der Kunsthalle Bremen ist unter anderem Klingers grafische Folge „Ein Handschuh, Opus VI“ von 1881 zu sehen.
„And so on to infinity. 100 Jahre Griffelkunst“, bis 18. Januar 2026, Kunsthalle Hamburg; „Flirt und Fantasie. Griffelkunst von Max Klinger bis Peter Doig“, bis 1. März 2026, Kunsthalle Bremen
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