Als der „Good Bye, Lenin!“-Regisseur Wolfgang Becker vor zwei Jahren seinen Onkologen aufsuchte, redete der Klartext: „Bei der kurzen Lebenserwartung, die Sie haben – was wollen Sie machen? Reisen Sie doch nochmals an all die schönen Orte, die Sie kennen.“
Becker war viel gereist, er kannte die schönen Orte dieser Welt. Die Idee überzeugte ihn nicht.
„Was machen Sie denn am allerliebsten?“, versuchte der Arzt es aufs Neue.
„Am liebsten mache ich einen Film“, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück.
Ein neuer Film von Wolfgang Becker, das war stets eine langwierige Angelegenheit gewesen. Zwischen „Kinderspiele“ und „Das Leben ist eine Baustelle“ hatten fünf Jahre gelegen, zwischen „Baustelle“ und „Lenin“ sechs, zwischen „Lenin“ und „Ich und Kaminski“ zwölf. Zeit, die er nun nicht mehr hatte, nicht annähernd. Diese Krankheit würde nicht gut enden.
Becker rief Stefan Arndt an, seinen Produzenten und Kompagnon bei der Firma X-Filme. „Wolfgang und ich hatten ein, gelinde gesagt, schwieriges Verhältnis“, erzählt Arndt, „aber wir haben irre Sachen zusammen hingekriegt“. Beim Reisebuchen könne er ihm nicht helfen, habe er Becker gesagt: „Aber bei einem Film wäre ich dabei.“
Der Stoff war, ganz unbeckermäßig, schnell gefunden: der Roman „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ von Maxim Leo über einen erfolglosen Berliner Videothekenbesitzer, der ungewollt zum Helden wird, weil er einst eine Massenflucht aus der DDR ermöglicht haben soll – ein riesiger geschichtlicher Fake, wie sich herausstellt, wie der Sieg des Sozialismus in „Lenin“.
Nun benötigt jeder Film heutzutage eine Versicherung, die einspringt, wenn er nicht fertiggestellt werden kann. Ohne Versicherung gibt kein Finanzier seine Gelder frei. Der halbseitig gelähmte Michelangelo Antonioni hätte seinen letzten Film „Jenseits der Wolken“ nicht drehen können, hätte nicht Wim Wenders bereitgestanden, um notfalls übernehmen zu können.
Arndt wusste, es würde schwierig werden, jemanden zu finden, der Becker passte. „Lasst uns Namen auf einen Zettel schreiben, dann decken wir auf“, schlug er vor. Als sie aufdeckten, stand zweimal derselbe Name: Achim.
Achim von Borries ist seit 20 Jahren eine Art adoptierter X-Filmer, hat dort „Was nützt die Liebe in Gedanken“ und „Jeder stirbt für sich allein“ gedreht und vier Staffeln von „Babylon Berlin“. Borries war ideal, denn er, Tom Tykwer und Henk Handloegten praktizieren seit acht Jahren bei „Babylon“ das, was nun bei „Held“ gefragt war: abwechselnd zu inszenieren, ohne dass Außenstehende unterscheiden könnten, was von wem stammt.
Nun hatte Becker jede Absicht, dies zu „einem Wolfgang-Becker-Film“ zu machen; er schrieb am Drehbuch mit, suchte Schauspieler und Schauplätze aus, probte und wollte natürlich inszenieren. Aber es war nicht abzusehen, wann er die nächste Spritze brauchen würde. Wann sollte Borries sich bereithalten? An festen Tagen? Für Szenen, die Becker nicht so wichtig waren?
„Natürlich hat es keine Szene gegeben, die er nicht am liebsten selbst gedreht hätte“, sagt Borries. Es gab nur eine Möglichkeit: „Wann immer man mich anruft, komme ich.“ Beckers Krebs hatte gestreut, aber zwei Jahre war er nicht schlimmer geworden. An vielen Drehtagen reichte die Kraft, an manchen waren sie zu zweit, an einigen Borries allein.
Dann stand die Schulszene an. Eine Berliner Klasse – Mittelstufe – bekommt Zeitzeugenbesuch, einen früheren DDR-Systemkritiker. Die Schüler sind neugierig: Waren Sie im Gefängnis? Sind Sie gefoltert worden? Irgendwann geht dem Besucher ihre Ahnungslosigkeit auf die Nerven, und es platzt aus ihm heraus: Nicht alles sei schlecht gewesen, etwa die Jobsicherheit, die Rolle der Frauen, das Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Schüler sind baff, die Lehrerin ist alarmiert. Schnell wird der Zeitzeuge in eine andere Klasse eskortiert.
Es ist die Essenz der Nachwendegeschichtsschreibung in einer wunderbaren Sequenz. Wolfgang Becker lag an diesem Tag im Krankenhaus, Achim von Borries musste ins kalte Wasser springen. Er hatte die von Becker gecasteten Kinder noch nie gesehen. „Wir drehen die Probe gleich mit“, sagte er zu seinem Kameramann und erinnert sich jetzt: „Die Kinder waren so was von auf Zack! Die haben das ohne mein Zutun völlig beckerhaft gespielt.“
Am Set konnte man glauben, man befinde sich nicht im Herbst 2024, sondern ein Vierteljahrhundert davor. „Wir haben alles gemacht, wie wir es früher gemacht haben“, erinnert sich Arndt, „ein Team aus zehn, 15 Freunden, ungefähr gleich alt und gleich erfahren, die alle wissen, was für ein Typ Wolfgang ist. Vor 25 Jahren war das Filmemachen freier. Du hast viel länger gedreht, viel mehr ausprobiert. Heutzutage tickt bei allem die Uhr, herrscht oft ein Unteroffizierston.“
All die alten Beckeraner, von Jürgen Vogel über Christiane Paul und Peter Kurth bis Daniel Brühl, machten ihre Terminkalender frei – dies war ein Freundschaftsdienst, kein Engagement. Becker selbst, der bei „Lenin!“ den Etat ums Doppelte überschritten hatte, hielt Disziplin. „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ blieb im Budget.
Nach zwei Monaten, Ende November 2024, fiel die letzte Klappe. „Er hat diesen Kraftakt geschafft, und es hat ihn riesig glücklich gemacht“, erinnert sich Achim von Borries. „So gelöst wie bei dem Abschiedsfest hatte ich ihn noch nie erlebt. Er stand auf der Bühne und hat eine halbe Stunde lang das Team unterhalten, und manche haben leise gesagt: ,So warst du aber auch nicht immer‘.“ Die Woche darauf telefonierten Stefan Arndt und Wolfgang Becker drei Stunden lang, erinnert sich Arndt, „über Termine und Geld und den ganzen Müll“. Zwei Tage später war Becker tot.
Ein Film, sagt man, wird dreimal erfunden: beim Schreiben, beim Drehen und beim Schneiden. Den Cutter Jörg Hauschild, den Stammeditor von Andreas Dresen, hatte noch Becker selbst ausgesucht. Seine eigenen Filme gekürzt hat er nie gerne, und vielleicht war es ganz gut, dass Borries diese Aufgabe zufiel. Borries, der über 42 Folgen von „Babylon Berlin“ die Disziplin erlernt hatte, Handlung in Dreiviertelstundenepisoden zu komprimieren, und der „frei“ hatte, weil sich die fünfte „Babylon“-Staffel durch eine Erkrankung im Cast verzögerte.
Wolfgang Beckers letzter Film kommt am 11. Dezember in die Kinos, einen Tag vor seinem ersten Todestag. Der „Held“ dauert 112 Minuten, hat viel Luft zum Atmen und strahlt eine große Wärme aus. „Selbst wenn es nicht unbedingt seine Art war“, glaubt Stefan Arndt, „der dort oben auf der Wolke würde sagen: ,Das habt ihr echt o.k. gemacht‘.“
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