Eine Viertelstunde lang leuchten Scheinwerfer jeweils einen Bereich der Uber Arena an. Und die angestrahlten Fans, die jubeln. Am Anfang zwar ein klein wenig mehr als am Ende. Aber der Jubel ebbt auch nach 15 Minuten kaum ab. Man merkt: Hier ist echte Vorfreude in der Luft.
Schließlich ist das erste Mal seit sieben Jahren, dass Radiohead wieder auf Tour ist. 20 Stopps machen die Musiker aus England. Montag haben sie den ersten von vier Auftritten in Berlin. Wenn die kommenden Nächte werden wie dieser Auftakt, steht Berlin eine aufregende Konzertwoche bevor.
Radiohead in Berlin hinter Gittern
Um 20.30 Uhr beginnt die Inszenierung. Die Bühne: ein kreisrundes Plateau mitten in der Arena, umgeben von gitterartigen Stäben, zwischen denen halbdurchsichtige Monitore sind. Es wirkt, als könnte man Radiohead in ihre private Welt, in ihren Proberaum zuschauen. Oder doch eher in ihr eigenes Gefängnis, in dem sie die weitere Welt aussperren können?
Radiohead haben genügend Gründe, das zu tun. Gitarrist Ed O´Brien berichtet in einem "Times"-Interview von einer Depression und hatte, so erzählt er es, 2021 seinen Tiefpunkt erreicht. Die Band sei sein Anker gewesen. Draußen tobt derweil die Debatte um die antiisraelische BDS-Bewegung, die zum Boykott gegen die Band aufruft.
Ein Abend in Trance
Das alles scheint weit entfernt zu sein an diesem Abend in Berlin. Bei "2+2=5" öffnet sich das Bühnenbild, die Gitterstäbe. "You have not been paying attention. Paying Attention."
Doch das Publikum tut genau das, es hört beinahe andächtig zu. Radiohead sind jetzt nicht mehr von ihnen getrennt: Sie und die Zuschauer, sie sind gemeinsam in der Uber Arena in eine andere Dimension entrückt. Sie sind jetzt mit Radiohead eingesperrt. Die Realität muss draußen bleiben.
Die Band schafft es immer wieder meisterhaft Trance-Momente zu erzeugen. Bei einem ihrer großen Hits, "No Surprises", wippt das gesamte Stadion mit. Paare liegen sich vertraut in den Armen, schauen sich in die Augen, tanzen.
"No alarms and no surprises (get me out of here)"
Ein Zuschauer starrt auf die Bühne, sein Handy lose in der Hand, als hätte er vergessen, dass er filmen wollte. Thom Yorke tänzelt über die Bühne, animiert die Crowd. Die gesamte Band rotiert in ihrer kreisrunden Bühne durch, sodass jeder Fan einen Blick auf jeden Musiker erhaschen kann.
Ihre Balladen verzaubern das Publikum. Immer wieder erleuchten dutzende Handylampen und ein einsames Feuerzeug die Arena. Auf den Bildschirmen über der Bühne sind O´Brien, Yorke, Jonny Greenwood und der Rest der Band nicht realistisch, sondern nur als schemenhaft gezeichnete Figuren zu sehen. Beinahe wie Schatten, Geister aus einer anderen, besseren Zeit. Die Konzertgänger – und die Band – scheinen in ihrer gemeinsamen Melancholie verloren zu sein.
"I lost myself"
Dabei sind sie in Fleisch und Blut auf der Bühne! Und unterbrechen ihre musikalische Seance, ihren Zauberspruch, immer wieder mit ihrer Mischung aus wuchtigem, treibendem Rock und Elektroeinflüssen. "Bodysnatchers" lässt die halbe Arena tanzen, bei "You and Whose Army" bewegt sich jeder Zuschauer zum Takt der Musik.
Balladenartige Songs, die in eine andere Welt entführen wollen und treibende Lieder, die definitiv in eine andere Welt entführen: Sie machen dieses Konzert so abwechslungsreich. Klar, Radiohead haben natürlich eine gewaltige Spannbreite an Liedern, aus denen sie schöpfen können, aber: Sie so geschickt aneinander zu reihen, so eine Dramaturgie im Konzert zu erzeugen, das ist große Kunst.
Nach 24 Songs, wie könnte es auch anders sein, kulminiert die Darbietung in einem Letzten: "He talks in maths, he buzzes like a fridge, He's like a detuned radio." Sie spielen "Karma Police" und die Uber-Arena singt mit. Radioheads letzten gesungenen Worte an diesem Abend: "Phew, for a minute there, I lost myself, I lost myself." Das hat vermutlich das ganze Stadion ehrlich mitgesungen – wenn auch aus anderen Gründen, als die des Protagonisten von Karma Police.
Radiohead in Berlin: Ein Gefängnis, das die Welt da draußen zwei Stunden lang aussperrt. Eine tragende Stimmung, ein kluges Bühnenbild, eine geniale Band. Ein Abend, an dem man sich verlieren musste, um sich wiederzufinden.
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