Das Werk von Künstlerinnen wurde über lange Zeit unterschätzt oder schlichtweg vergessen. Ihr Talent und ihre Bedeutung für die Kunstgeschichte wird erst seit einigen Jahren verstärkt gewürdigt, ob in Ausstellungen oder im Kunsthandel. Dass Frauen nicht nur auf künstlerischem Terrain, sondern auch auf dem literarischen Feld früh eine wichtige Rolle spielten, davon zeugt ein deutscher Kodex aus dem frühen 10. Jahrhundert, der nun versteigert wird.

Das Auktionshaus Christie’s in London bietet am 10. Dezember das bisher wohl früheste bekannte Exempel eines biblischen Manuskripts an, das von weiblicher Hand gefertigt wurde. Geschrieben auf weißem Pergament – ein zu jener Zeit luxuriöses Material –, entstand dieses Werk vermutlich im Kloster von Essen, einem Ordensstift für aristokratische Chordamen.

Zwei der Kanonissinnen haben gemeinsam gearbeitet, wie Untersuchungen ergaben: Sie schrieben in dem Kodex die vier lateinischen Evangelien nieder – mit bräunlicher und orangeroter Tinte. Die Eleganz ihrer „karolingischen“ Schrift, die von Karl dem Großen eingeführt wurde, ist staunenswert. Die glänzende Erhaltung des Buchs erweckt den Anschein, als hätten sich die Chordamen mit ihren Schreibfedern gerade erst über die 176 Seiten gebeugt.

Ursprünglich wurden die Blätter wohl von einem Metalleinband gefasst. Im 16. Jahrhundert ersetzte ihn der jetzige, blind geprägte Einband aus rotbraunem Kalbsleder. Die eindrucksvolle Qualität des Manuskripts lässt vermuten, dass es eine private Auftragsarbeit war, eventuell für eine der beiden ersten, mit der kaiserlichen Familie verwandten Äbtissinnen.

Das Werk, so lässt das Auktionshaus wissen, gehört zu den weniger als zehn lateinischen Evangeliaren aus dem frühen Mittelalter, die je auf Auktionen angeboten wurden. Und keiner dieser Kodizes wurde, soweit bekannt, von Frauen verfasst. Als Entstehungsort vermutet man das Stift Essen, eine ehemalige Abtei, die als Keimzelle der heutigen Ruhrgebietsstadt Essen gilt.

Im Jahr 845 wurde das Stift von dem später heiliggesprochenen Bischof Altfrid in der Nähe einer königlichen Residenz gegründet. Adlige Damen konnten dort als Kanonissinnen ihren spirituellen und intellektuellen Interessen nachgehen, ohne ein Gelübde abzulegen; nur die Äbtissin verpflichtete sich für das Leben als Nonne. Unter den Ottonen zur reichsunmittelbaren Abtei erklärt, florierte Essen als bedeutendes Frauenstift und Skriptorium.

Nach der Säkularisierung unter Napoleon gelangten um 1803 die meisten Manuskripte in deutsche Bibliotheken und Archive, dieses „Essener Abtei-Manuskript“ kam in den Besitz des Marburger Theologieprofessors August Friedrich Christian Vilmar. Nach dessen Tod im Jahr 1868 wurde der Kodex in eine Frankfurter Auktion eingeliefert. Im Katalog notierte man, dass die Eröffnungsseiten der Evangelien – eventuell wegen ihrer verzierten Initialen – herausgeschnitten worden waren.

Zur Provenienz weiß man, dass das Werk dann im Jahr 1935 in der Bibliothek des theologischen Seminars in Chicago registriert wurde. Von dort wurde es bei Christie’s eingeliefert. In der Versteigerung erwartet das Auktionshaus für dieses rare mittelalterliche Zeugnis weiblicher Schriftkunst einen Zuschlag im Bereich 700.000 bis einer Million Pfund.

Zuletzt wurde in dieser Kategorie im Jahr 2015 ein etwas früher entstandenes (allerdings von Mönchen verfasstes) Evangelien-Manuskript für die fränkische Königin Theutberga angeboten. Das Metropolitan Museum in New York ersteigerte es damals für 1,98 Millionen Pfund. Jetzt wird mit Spannung erwartet, ob es für die weibliche Autorenschaft des Essener Exemplars einen Bonus gibt. Wer immer diese Handschrift erwirbt, sollte den Ansporn haben, weitere Studien über die Geschichte des Kodex anzustrengen. Darauf hoffen jedenfalls die Experten.

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