Lemberg, den 30. November, nachmittags

„Endlich mal ein ukrainischer Zug, der Verspätung hat!“, hat mir begeistert eine alte Freundin geschrieben. Zugegeben, das ist eine Übertreibung. Es mag sein, dass für sie, eine Deutsche, die viel in der Ukraine unterwegs ist, ein verspäteter Zug hierzulande fast wie ein Wunder vorkommt. Aber auch ukrainische Züge verspäten sich. Manchmal sogar massiv. Vor allem wegen des russischen Beschusses und dadurch verursachten Schäden.

In Deutschland dagegen ist es anders. Die Bahn gibt so viele Gründe an, warum ein Zug nicht pünktlich ist, dass man sich leicht darin verirrt. Ein Triebwerkschaden. Ein Oberleitungsschaden. Bäume auf den Gleisen. Tiere auf den Gleisen. Eine Lok kaputt. Eine Tür kaputt. Sonst irgendwas kaputt. Eine Weichenstörung. Eine Signalstörung. Ein Polizeieinsatz. Ein Notarzteinsatz. Ein vorausfahrender Zug. Ein hinterherfahrender Zug. Bei einer gut ausgebauten und weniger gut gepflegten Infrastruktur sind die Gründe komplex und mannigfaltig.

Auch bei meiner jüngsten Reise war der Wurm drin. Wir waren mit einer Kollegin in München gelandet und stellten fest, dass es weiter nicht ging. Im Grunde nirgendwohin. „Wenn es in Polen schneit, fahren die Züge in München nicht mehr“, dachte ich genervt. Wir mussten nach Regensburg.

Unsere Freundin, die uns am Flughafen abholte, schlug vor, einen Bus nach Freising zu nehmen. Der fuhr vom Flughafen als Schienenersatzverkehr. Ein Wort, das man ins Ukrainische gar nicht übersetzen kann. Wir beschlossen, eine kleine Tour durch Oberbayern zu unternehmen. Es dämmerte an diesem frühen Nachmittag, schwere Wolken hingen am Himmel, als würden sie sich auf den kommenden Wintereinbruch vorbereiten. Es war kalt, aber trocken. In Freising angekommen, schauten wir hoffnungsvoll auf die Anzeigetafel im Bahnhof. Unsere Hoffnungen schmolzen im Neonlicht der Bahnhofshalle wie erster Schnee unter den warmen Sonnenstrahlen eines Novembertages. Die Züge fuhren nicht. Mindestens zwei Stunden lang. Danach vielleicht wieder. Draußen war es noch immer kalt und trocken. Wir gingen in die Stadt zum Essen.

Ich muss gestehen, dass mir Freising während dieser ersten Stippvisite wirklich gefallen hat. Die Häuser in der Altstadt waren alt, der Mariendom überwachte das Geschehen von einem Hügel aus, das Rathaus versteckte sich hinter der Mariensäule am Marktplatz. Das Essen war gut, der Glühwein wärmte, und sogar das hiesige Kopfsteinpflaster war unseren Rollkoffern nicht besonders feindlich gesonnen.

Zurück am Bahnhof, stellten wir fest, dass die Züge nicht fuhren. Es gab wiederum den Schienenersatzverkehr, die Menschenmenge an der Bushaltestelle erinnerte an die Zeiten der Völkerwanderung. Wir stapften munter zum Taxistand. Nach dem Mittagessen waren wir gut gelaunt. Kur bevor wir ins Taxi sprangen, kam eine Frau auf uns zu und fragte in einem recht guten Englisch, ob sie mitfahren dürfe. Kein Problem. Das Reisen mit der Deutschen Bahn ist immer ein Abenteuer. Wir stiegen ein und fuhren in die bayrische Nacht.

Unser türkischer Fahrer kurvte uns sicher durch die Felder zum nächsten Bahnhof, von wo die Züge wieder fuhren. Wir kamen allmählich ins Gespräch. Ich sagte, wir seien unterwegs zu einem deutsch-ukrainischen Schriftstellertreffen. Irgendwann fragte ich die Frau, woher sie komme. „Russia“, war die kurze Antwort. Meine Kollegin nannte die Abfahrtszeit des nächsten Zuges. Auf Ukrainisch. Die Frau wusste jetzt, wer wir sind.

Es wurde still im Wagen, man konnte das Rauschen der Reifen hören. Bevor ich es mir überlegte, was ich sagen sollte, waren wir da. Die Frau zahlte, murmelte, dass sie nun schnell den Fahrplan checken wolle und sprang aus dem Taxi.

Was fühlt man als Bürger eines Landes, das seinen Nachbar brutal überfallen hat, wenn man den Angegriffenen begegnet? Schaut man einfach weg? Was spürte die Frau? Verlegenheit? Scham vielleicht? War es ihr plötzlich peinlich? Oder war ihr gar unbehaglich zumute? Lebte sie im Exil? Kam sie direkt aus Russland? War sie eine Oppositionelle? Oder eine Putinistin? Das werden wir nie wissen. Wir haben sie nicht mehr gesehen.

Lemberg, den 20. November, abends

Westliche Medien berichten derzeit weniger über den russischen Krieg gegen die Ukraine. Die täglichen – eher nächtlichen – Angriffe auf ukrainische Städte und Energieinfrastruktur sind aus ihrer Sicht vielleicht eintönig. Alles, was so gut wie jeden Tag passiert, ist keine Nachricht mehr. Und schließlich wollen ja die Menschen im friedlichen Europa nicht ständig mit Meldungen über Zerstörungen bombardiert werden. Schon gar nicht kurz vor Adventszeit. Es sei denn, es gab einen besonders brutalen Angriff gegen die Zivilbevölkerung. Mit vielen Opfern. Wie gestern in Ternopil. 31 Tote, fast 100 Verletzte, 13 Menschen gelten noch als vermisst, Bergungsarbeiten laufen weiter. Europäische Medien und Politiker nennen diesen Angriff fast einstimmig beim richtigen Namen: ein Kriegsverbrechen. Noch eins, in einer unendlichen Reihe russischer Kriegsverbrechen. Und was tut sich? Nichts. Außer dass Donald Trump einen neuen Plan ersonnen hat, wie man die Ukraine an Russland verkauft.

Bei diesem jüngsten russischen Angriff – wie bei jedem anderen auch – kamen übrigens ballistische Raketen, Marschflugkörper und Drohnen zum Einsatz, in denen Dutzende von Komponenten westlicher Hersteller steckten. Ohne diese Teile würden sie entweder gar nicht fliegen oder ihre Ziele nicht treffen können. Es ist unbegreiflich, ja ungeheuerlich, dass der Westen sich auch im vierten Jahr des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine eher ratlos, machtlos und – man wird den Eindruck einfach nicht los – tatenlos die Stirn reibt.

Wir werden den russischen Terror überleben. Selbst wenn es in diesem Winter nicht viel Strom geben wird. Noch niemand hat den Krieg durch den Terror gegen die Zivilbevölkerung gewonnen. 1940 war die britische Regierung über die möglichen deutschen Luftangriffe auf London sehr beunruhigt. Die Prognosen für zu erwartende Reaktionen der Bevölkerung waren höchst unerfreulich. Man ging davon aus, dass die Situation völlig außer Kontrolle geraten würde. Die Flüchtlingsströme würden das Land ins komplette Chaos stürzen. Tausende, wenn nicht gar zigtausende würden psychisch zusammenbrechen. Und was passierte, nachdem die Luftwaffe im Herbst 1940 mit ihren Angriffen auf London und andere britische Städte begonnen hatte? Nichts dergleichen. Man brachte Kinder in Sicherheit, man schickte sie aufs Land. Die anderen räumten nach jedem Angriff die Trümmer weg, beerdigten die Toten und gingen ihren täglichen Beschäftigungen nach.

Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben in Kiew und anderen Großstädten in den ersten Tagen nach dem russischen Überfall ähnlich reagiert. Kinder und Frauen wurden weggeschickt. Das halbe Land war auf Rädern. Die allermeisten Männern blieben in ihren Heimatstädten, viele meldeten sich freiwillig zum Armeedienst. Ansonsten versuchte man, ein normales Leben zu führen. Soweit es ging.

In Ternopil setzten am Tag nach dem Angriff die Rettungskräfte und freiwillige Helfer ihre Suche nach Vermissten fort. Betonplatte um Betonplatte, Stein um Stein, Ziegel um Ziegel. Die Stadtbewohner gingen schweren Herzens ihren täglichen Beschäftigungen nach.

Lemberg, den 27. Oktober, nachmittags

Er bastelte immer an seinem Lada. Der Wagen war alt und von Rost angefressen, der der sandfarbenen Lackierung rötliche Töne hinzufügte. An den Kotflügeln wölbte sich der Lack in kleinen Blasen, als imitierte hier die Farbe wüste Sahara-Dünen en miniature. Die Motorhaube war meist offen, der Mann werkelte ständig am Vergaser, am Motor oder an irgendwelchen Schläuchen herum. Typisches Schicksal eines Lada-Fahrers, der das Fummeln an seinem Fahrzeug lieben muss. Wiktor liebte es offensichtlich.

Er besaß eine Garage gleich um die Ecke. Manchmal klapperte es von dort hinter einem angelehnten Tor. Doch meistens stand das Auto auf der Straße. Im Frühling war es hier angenehm warm, im Sommer nicht so stickig wie in der Garage, und im Winter hätte der schlecht bereifte Wagen Probleme gehabt, die kleine Steigung, die von der Einfahrt führte, hinaufzuklettern. Also ließ Wiktor den Lada vor seinem Haus stehen und schleppte die Batterie immer wieder zum Aufladen heim.

Morgens und abends führte er seinen Hund aus, einen großen, alten Labrador, dessen gelbes Fell mit der Lackierung seines Ladas harmonierte. Wiktor war immer freundlich, ein gutmütiger und hilfsbereiter Mensch; schlank und hochgewachsen, mal wirkte er geschäftig, mal zerstreut. Das Motoröl und der Schmutz waren tief in die Poren seiner Hände eingedrungen und verliehen der Haut einen dunklen Teint. Wir grüßten uns, wechselten ein paar Worte. Wie gute Nachbarn, die keine Revierkämpfe auszutragen haben.

Eines Tages, vor ein paar Jahren, war er weg. Sein Lada war auch verschwunden. Wiktor hatte ihn verkauft, wie ich später erfuhr, und war heilfroh darüber. Wie übrigens jeder andere Ladafahrer, der seine Karosse mit ihren wilden Marotten endlich loswurde. Nur der Hund ist geblieben. Ihn führte nun seine Frau Zhanna aus. Irgendwann sagte sie uns, Wiktor habe sich freiwillig gemeldet, kämpfe nun irgendwo im Osten. Er telefoniere jeden Abend mit ihr. Der Hund wedelte fröhlich mit dem Schwanz und zog kräftig an der Leine.

Vor etwa einer Woche parkte ein Auto vor unserem Haus ein. Am Steuer saß eine Frau, deren unscharfe Umrisse hinter den verregneten Fensterscheiben nur schwer zu erkennen waren. Nach wenigen Minuten stieg die Frau aus. Es war Zhanna, sie wirkte ziemlich verstört. Ob bei ihr alles in Ordnung sei, fragte meine Frau. „Nein“, lautete die kurze Antwort. „Was ist denn passiert?“ – „Das Schlimmste.“

Seit einigen Tagen meldete sich Wiktor nicht mehr. Dann kam die offizielle Meldung von seiner Einheit, dass er als vermisst gelte. Seine Kameraden waren konkreter – ihr Panzer sei getroffen worden. Als sie ihn fluchtartig verließen, sahen sie Wiktor, offenbar von einer Kugel getroffen, fallen. Unter dem feindlichen Feuer gab es keine Möglichkeit, ihn herauszuholen. Die anderen konnten sich retten.

War er auf der Stelle tot? Oder schwer verwundet? Gibt es eine Chance, dass er am Leben ist? In russischer Gefangenschaft? Und sollte er tot sein, kriegen die Angehörigen irgendwann seine Leiche zurück? Wann? Nach Monaten? Nach Jahren?

Es ist eine Tragödie, die sich nach dem russischen Überfall zigtausend Male abgespielt hat. Die bedrückende, kaum zu ertragende Ungewissheit zerfrisst den Alltag, bohrt sich in das Unterbewusstsein. In jeder Familie klammert man sich an die leiseste Hoffnung. Man weigert sich, sie sterben zu lassen, als stürbe mit ihr auch der- oder diejenige, die womöglich im Nebel des Krieges in tiefster Verborgenheit weiter leben. Manchmal will man sogar an die Möglichkeit glauben, dass es sich um eine Verwechselung, eine Falschmeldung handelt. Hauptsache, nicht aufgeben. Das darf man einfach nicht. Es wäre ein Verrat gewesen – an einem Toten wie an einem Lebendigen.

Plötzlich klingelte jemand an der Wohnungstür. Dann noch einmal. Als Zhanna die Tür aufmachte, war niemand da.

Juri Durkot wurde für seine Übersetzungen der Werke von Serhij Zhadan – gemeinsam mit Sabine Stöhr – mit dem Brücke Berlin-Preis und dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Sein komplettes Kriegstagebuch lesen Sie hier:

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