Daniel Craig hat in seiner Karriere jenen Legendenstatus erreicht, der es ihm erlaubt, fast alles zu machen: als Bond-Held zu sterben, als schwuler Detektiv Kriminalfälle zu lösen, im Rippen-Unterhemd für eine Wodka-Werbung zu tanzen, als queerer Halodri durch Mexiko zu streifen – und jetzt sogar, sich fast eine Stunde Zeit zu lassen, bis er in dem Film, in dem er Held und Hauptfigur ist, das erste Mal auftritt.
Rian Johnson – Regisseur, Drehbuchautor und Produzent der erfolgreichen Netflix-Murder-Mystery-Reihe „Knives Out“ nach Agatha-Christie-Muster – rettet mit dem dritten Teil „Wake Up Dead Man: A Knives Out Mystery“ schon wieder zahlreichen Familien die Weihnachtsfeiertage. Nur zwei Wochen nach Kinostart ist der Film auf Netflix abrufbar, und so sehr viele Filme eigentlich für die große Leinwand gemacht sind, so sehr eignet sich dieses Whodunit-Abenteuer für das gemeinsame Rätseln auf der Couch mit Plätzchen und Kaminfeuer.
Nach dem grandiosen „Knives Out“-Auftakt von 2019 über einen Mord auf einer Geburtstagsfeier im trauten Familienkreis und dem dahinter etwas abfallenden „Glass Onion“ von 2022 über einen Mord auf der Privatinsel eines Tech-Milliardärs, findet Johnson mit seinem neusten Fall über einen Mord in einer abgelegenen Kirchengemeinde erfreulicherweise wieder zum Cozy Crime zurück, das er in seinem kühl-zynischen Eat-the-Rich-Ausflug vernachlässigt hatte.
Wo Spoiler anfangen und wo sie aufhören, ist eine vertrackte Frage, über die man ganze Abhandlungen schreiben könnte. Aber wenn sich ein Regisseur so freundlich an die Presse wendet wie Johnson mit der Bitte, trotz der Schwierigkeiten, die dies für die Berichterstattung darstelle, auf Spoiler zu verzichten, dann ist man als Kritikerin geneigt, nicht nur die Identität des Mörders geheim zu halten, sondern sogar die der Leiche. Nur so viel: Jemand stirbt. In der Kirche. Und jemand muss das Rätsel lösen. Bevor Detektiv Benoit Blanc (Daniel Craig) mit seiner Kollegin, der Polizeichefin Geraldine Scott (Mila Kunis), zur Stelle ist, kommt die vertrackte Aufgabe dem Assistenz-Priester Jud Duplenticy (Josh O’Connor) zu, der neu in der Gemeinde ist und noch Schwierigkeiten hat, sich in die ungewohnte Umgebung mit ihren ganz eigenen sonderbaren Regeln einzufügen.
Craig gibt seinen Blanc so lässig wie nie, ja, er hat jetzt sogar das Level erreicht, wo er Sätze wie „Ich kann dieses Rätsel nicht lösen“ wiederholen darf, ohne dass es seine Kompetenz schmälern würde. Derweil treibt Priester Jud, die heimliche Hauptfigur, der Benoit selbstbewusst den Platz räumt, den derzeit angesagten „Hot Priest“-Topos auf die Spitze.
Die Figur des „heißen Priesters“, der Schauspieler Andrew Scott in der britischen Comedy-Serie „Fleabag“ (lange nach der 1980er-Serie „Die Dornenvögel“) kürzlich zu neuem Ruhm verhalf, findet hier gleich ihre doppelte Entsprechung: Einerseits ist nämlich Scott selbst Teil des kuriosen Kabinetts an Verdächtigen. Zurückgenommen und in seiner Funktion als Referenz-Folie fast verschwendet, spielt er den Bestsellerautor Lee Roos. Und zweitens mimt Josh O’Connor („Challengers“), der dem aktuellen Hollywood-Schönheitsideal des „hot rodent“ (des „heißen Nagetiers“) alle Ehre macht, einen Priester, der sich selbst dann noch Zeit für ein Seelsorgetelefonat mit einer Bedürftigen nimmt, wenn er eigentlich mitten in einer dringenden Ermittlung steckt. Als es später einer Figur vergönnt ist, in Juds Armen zu sterben, wünscht man sich fast, mit ihr tauschen zu dürfen.
Jud ist mit seiner einfühlsamen Art das Gegenteil des Hauptpriesters Jefferson Wicks (Josh Brolin), der das Zepter in der Hand hält und keine Konkurrenz neben sich duldet. Als Jud einmal zur Gemeindesitzung einlädt und dabei verpasst, Wicks vorher um Erlaubnis zu bitten, entfaltet das eine brillant beobachtete Sekten-Dynamik. Die skurrile, schnell liebgewonnene Gruppe an Verdächtigen umfasst unter anderem die fromme Martha (Glenn Close), die eine Affäre mit keinem Geringerem als dem Gärtner (Thomas Haden Church) unterhält, sowie den von seiner Frau verlassenen, liebeskranken Arzt Nat (Jeremy Renner), die im Rollstuhl sitzende verhinderte Konzertcellistin Simone (Cailee Spaeny) und den Möchtegern-Influencer Cy (Daryl McCormack), der sämtliche Dorf-Intrigen auf dem Smartphone festhält und ohne Erlaubnis der Beteiligten ins Netz hochlädt.
Ausgewogene Religionskritik
Die Auflösung, die der Meisterdetektiv am Ende von der Kanzel herunterbrüllt, ist ungewohnt komplex und übersteigt selbst das Kombinationsvermögen Whodunit-erprobter Hobby-Ermittler. Doch für die Frustration, die sich einstellt, wenn man nicht genug Chancen an die Hand gegeben bekommt, das Geheimnis selbst zu lüften, kompensiert der Krimi mit der bildhaften Nacherzählung eines originellen, wendepunktreichen Tathergangs, der einem den Atem verschlägt.
Zu Johnsons Erfolgsrezept gehören nicht nur die düstere Spannung, der herausragende Cast, die exzentrischen Figuren und der sorgsam konstruierte Fall, sondern vor allem auch der Humor, der oft campig-satirisch funktioniert und das eigene Genre mit einem Augenzwinkern kommentiert. Er wolle einfach nur Priester sein und keinen blöden Whodunit-Fall lösen, murrt Jud einmal, und auch Star-Wars-Anspielungen lässt sich Regisseur Johnson, der vor der Mystery-Reihe für „Star Wars“ verantwortlich zeichnete, nicht entgehen. Derweil treibt die Dorfbewohner die Sorge um, sich am Ende in einer idiotischen Netflix-Version ihres Falls wiederzufinden.
Religionskritik zu üben, ohne dabei mit Klischees oder dem Holzhammer zu hantieren, gilt als eine der schwierigsten Aufgaben, an denen Filmemacher immer wieder zuverlässig scheitern. Johnson hingegen gelingt der Balanceakt zwischen Verdammung und Verherrlichung virtuos: Wenn etwa der eine Priester dem anderen beichtet, mehrfach masturbiert zu haben, oder der eine dem anderen den Tod wünscht, danach aber die Absolution für derartige Anliegen erhält, kommt man aus dem Lachen kaum noch heraus. Mit seinem unübertrefflichen Gespür für Situationskomik, plötzliche Auf- und Abtritte und ironische Spitzen rettet „Knives Out“ nicht nur das Weihnachtsfest, sondern auch den damit womöglich verbundenen Kirchenbesuch.
„Wake Up Dead Man: A Knives Out Mystery“ läuft ab dem 27. November im Kino und ab dem 12. Dezember auf Netflix.
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