Das Meer ist der beste Komplize des Mörders. Beweismittel und Leichen werden von den Fluten in Sekunden geschluckt, Kameras sind in der Regel keine vorhanden, und ein angeblicher „Bootsunfall“ dient stets als kommodes Alibi.

Ob der junge Amerikaner Nathan Carman tatsächlich einen Mord begangen hat, ist bis heute ungewiss und wird vermutlich nie aufgeklärt. Gesichert ist indes, dass die Vorkommnisse rund um dessen Rettung auf hoher See im Jahr 2016 ziemlich hohe Wellen schlugen. Die auf Netflix verfügbare True-Crime-Doku „Der Fall Nathan Carman“ geht der Geschichte auf den Grund, die zu einem der größten Rätsel der jüngeren Kriminalgeschichte gehört.

Im September 2016 fahren der damals 22-jährige Nathan Carman und seine Mutter Linda zu einem Angeltrip in Richtung Block Island auf den Atlantik hinaus, einer kleinen Insel östlich von Long Island, von dem sie nicht zurückkehren. Nachdem eine Freundin die Küstenwache verständigt, beginnt eine einwöchige Suchaktion nach der „Chicken Pox“, dem Familienboot der Carmans – vergebens. Am 27. September 2016, am achten Tag ihres Verschwindens, entdeckt ein Such-Helikopter ein Luftkissenboot mit Nathan an Bord, mitten im Atlantik. Von seiner Mutter fehlt jede Spur. Die Dokumentation zeigt Live-Videomaterial von der Rettung Nathans, die Presse feiert ihn als Held, er gibt zahlreiche TV-Interviews und wird von Kamerateams belagert.

In den Monaten danach beginnt sich die Stimmung in der Öffentlichkeit langsam zu drehen, von der heldenhaften Survival-Story eines armen jungen Mannes, der auf tragische Weise seine Mutter verloren hat, hin zu einem Gefühl von „Irgendwas stimmt hier nicht“. Warum rief Nathan keine Hilfe über den Bordfunk? Wie kann es sein, dass er den Strömungsberechnungen nach eigentlich in einem Gebiet hätte gefunden werden müssen, das rund 80 Meilen in entgegengesetzter Richtung zum angeblichen Ort des Unglücks lag? Und wie ist es möglich, dass er nach sieben Tagen in einem Luftkissenfloß mitten im Meer bei seiner Rettung noch derartig bei Kräften war?

Ein Mitglied der Küstenwache fasst im Film seine Skepsis wie folgt zusammen: „Nachdem Nathan aus dem Rettungsfloß in wahrscheinlich 7000 Fuß tiefes Wasser gesprungen ist, kann er sich mit den Beinen abstoßen und zu dem Rettungsring schwimmen, der ihm zugeworfen wird. Er kann sich daran festhalten und sich an der Leiter hochziehen, die …“ – der Coastguard hält inne, blickt auf Fotos von Nathans Rettung und schüttelt den Kopf: „Unmöglich.“ Wenn Nathan also gar nicht über sieben Tage hinweg auf offener See trieb, wo war er dann? Und was geschah dann mit dem Boot, und vor allem mit seiner Mutter?

Die zunehmende Skepsis wird weiter genährt durch Nathans Verhalten und Aussagen. Sowohl in Interview als auch gegenüber der Polizei spricht er nüchtern, analytisch und meist druckreif über die Geschehnisse, er wirkt emotionslos und in sich gekehrt, seine Augen blicken oft starr und kalt in eine unbestimmte Leere. Die Ermittler macht zudem stutzig, dass Nathan im Verhör angibt, in die Notfalltasche des Boots neben Essensrationen auch Dinge wie einen tragbaren Wasseraufbereiter gepackt zu haben – wer so akribisch plant, muss doch etwas im Schilde führen. Doch das für die Öffentlichkeit und die Polizisten weirde Verhalten hat einen Grund, der sich wie ein roter Faden durch den Fall zieht und sämtliche Grundsätze der Aussage- und Verhaltenspsychologie relativiert: Nathan leidet an einer Autismus-Spektrum-Störung.

Mit vier Jahren wird bei ihm Asperger diagnostiziert, in der Schule hat er Probleme, Kontakte zu knüpfen. Als eines Tages sein Pferd stirbt, nach Angabe eines Familienangehörigen Nathans einziger Freund, verbarrikadiert sich der Teenager monatelang im Wohnwagen vor dem Familienhaus.

Neben den Aussagen der Ermittler, die eine schlüssige Indizienkette präsentieren, und Nathans Tanten, die ihn für einen Mörder halten, lässt der Film auch Personen zu Wort kommen, die fest von seiner Unschuld überzeugt sind. So erläutert ein Strafverteidiger, der selbst im autistischen Spektrum unterwegs ist: „Viele Menschen mit Autismus sind strukturiert und vorausplanend. Andere Menschen denken deswegen oft, dass wir etwas im Schilde führen, etwas aushecken, hinterhältig sind oder einfach dumm.“ Und auch für Nathans Vater, der eher verklärend von seinem Sohn erzählt, glaubt nicht an die Vorwürfe gegen seinen Sohn: „Dass er ein Verdächtiger ist, liegt größtenteils an der Unfähigkeit, sein Verhalten als autistisch zu erkennen.“

Aber dann ist da noch diese andere Sache. Drei Jahre vor dem Bootsvorfall wird Nathans Großvater nachts im Bett seines Anwesens mit mehreren Kopfschüssen gezielt hingerichtet. John Chakalos war ein Immobilienunternehmer griechischer Abstammung, der in den Siebzigerjahren mit dem Bau von Pflegeheimen reich wurde. Die Kontrolle und Bevormundung seiner vier Töchter – darunter Nathans Mutter Linda – sichert sich der knorrige Familienpatriarch dadurch, dass er ihnen bis ins hohe Erwachsenenalter monatlich ein Taschengeld von jeweils 25.000 Dollar zahlt. Und auch seinem Enkel Nathan steckt er jeden Monat mehrere Tausend Dollar zu.

Bereits damals gerät der zu dieser Zeit erst 19-jährige Nathan ins Visier der Ermittler. Der Junge war nachweislich der Letzte, der seinen Opa am Abend zuvor gesehen hatte, zudem offenbart er in einer ersten Zeugenvernehmung Täterwissen. Später finden die Ermittler eine Rechnung in Nathans Wohnung über den Kauf eines SIG-Sauer-Sturmgewehrs, die Munition passt zu den gefundenen Patronen im Schädel des Großvaters. Danach befragt, verweigert er unter Verweis auf das „5th Amendment“ seine Aussage.

Die Schwestern von Nathans Mutter wenden sich von ihr ab, weil diese die Unschuld ihres Sohnes beteuert. Andere Familienangehörigen warnen sie, mit dem Jungen nicht mehr zum Angeln zu fahren, „denn wenn du das tust, wird er der Einzige sein, der zurückkehren wird“. Hat Nathans Mutter also ihren Sohn gedeckt? Und diente der Bootsausflug in den Atlantik drei Jahre später dazu, die einzige Mitwisserin seiner Tat auszuschalten, also ein Mord mit Verdeckungsabsicht?

Zu einer Anklage kommt es jedenfalls nicht – zumindest vorerst, bis Nathan einen folgenschweren Fehler begeht. Denn kurz nach seiner Rettung entschließt er sich, das havarierte Boot bei seiner Versicherung als Schadensfall zu melden und fordert 85.000 Dollar. Diese stellt eigene Untersuchungen an, verweigert in Folge daraus die Zahlung und zeigt Carman schließlich wegen Versicherungsbetrugs an.

Regisseur Yon Motskin gelingt es, die zahlreichen Facetten des „Falls Nathan Carman“ in einer 90-minütigen True-Crime-Doku zu bündeln und dabei einen ungemeinen Sog zu entwickeln. Dabei ist dem Film groß anzurechnen, dass er komplett ohne nachgestellte Szenen oder CGI-Animationen auskommt, wie sie genretypisch aufgrund von spärlichem Bildmaterial des Öfteren vorkommen, in der Regel zulasten der Atmosphäre. Die Fülle an Originalaufnahmen aus Nathans Verhören, Interviews und TV-Berichterstattung schafft so einen atmosphärisch dichten Film, der zugleich das Psychogramm eines jungen Mannes zeichnet, der sich allem Anschein nach mit seiner Diagnose alleingelassen fühlte.

An einer Stelle im Film kommt eine Rechtsanwältin zu Wort, die auf Angeklagte im Autismus-Spektrum spezialisiert ist: „Wird bei jemandem eine Autismus-Störung diagnostiziert, weigert sich diese Person aber zu akzeptieren, dass sie eine schwere psychische Erkrankung hat, kann das katastrophale Folgen haben. Oft mit tödlichem Ausgang.“

„Der Fall Nathan Carman“ ist ab sofort auf Netflix verfügbar

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