Es waren einmal die Alten, die man fand. Nach sechs Monaten oder so. Ihrer Welt waren sie abhandengekommen. Durch ihr mit zunehmendem Alter immer löchriger gewordenes soziales Netz waren sie gefallen. Keiner hatte mehr ihre Geschichten hören wollen, sie gefragt, wie es ihnen geht. Keiner hatte sie vermisst. Einsamkeit war einmal etwas, das gewissermaßen mit dem Rentenbescheid ausgeliefert wurde.
Seit Corona, seit sich die Arbeitszusammenhänge aufgelöst haben, seit Millionen sich in Heimarbeitsplätze zurückzogen, seit die Menschen verlernt haben, was Zusammenleben eigentlich ist und wie es geht, ist Einsamkeit ein gesamtgesellschaftliches, in allen Generationen verbreitetes Phänomen. Eine Volkskrankheit, gefährlicher, möglicherweise auch verbreiteter als Fettleibigkeit.
Eine Krankheit, die Menschen wie Nelly trifft. Nelly Schlüter, Mitte zwanzig vielleicht, wird durch Zufall gefunden. Damit geht die melancholische Nachtfahrt in die Leere einer modernen Seele los, die Kathrin Bühlig geschrieben und Milena Aboyan inszeniert hat. Nach sechs Monaten oder so. Ihrer Welt war sie abhandengekommen. Kein soziales Netz hatte sie halten können, kein soziales Medium. Das erst recht nicht. Keiner hatte sie vermisst. Sie hätte auch noch länger in ihrer Wohnung liegen können, so einsam war sie, die sich im Netz Solitude nannte.
„Überlebe wenigstens bis morgen“ – den Titel des neuen Stuttgarter „Tatort“ hat Bühligs vielschichtiges, verschachteltes, poetisches Großstadtmelodram von Gerhard Gundermanns garstigem Anti-Selbstmord-Song – ist Nellys Schicksal. Von ihr selbst erzählt. Wenigstens manchmal.
Mord oder Selbstmord?
„Rücken Sie doch mit dem Stuhl näher heran“, hatte Nelly ganz am Anfang aus dem Off gesagt, noch bevor ihre Leiche gefunden war. Und ihre Geschichte angekündigt. Die lassen Bühlig und Aboyan immer wieder hineinkragen in die Ermittlungsarbeiten der Kommissare, die lange gar nicht ganz genau wissen, ob das „atypische Erhängen“, an dem Nelly starb, tatsächlich fremd zugefügt oder Suizid war.
Das feine psychologische Labyrinth, das Bühlig, die mehrfache Grimme-Preisträgerin, auch diesmal wieder gebaut hat, ist ein Raum, in dem ganz viele Phänomene des gegenwärtigen Großstadtalltags ihre Spuren, ihre Echos hinterlassen haben. Kein Tribunal findet in ihm statt. Niemand wird schuldig gesprochen für das aufhaltbare Ableben der Nelly Schlüter. Immer wieder und immer rechtzeitig lässt Bühlig Licht herein und Leichtigkeit.
Zurück zu Nelly. Die sieht gut aus. Kontaktfreudig ist sie auch. Als Außenseiterin hat sie sich trotzdem empfunden. Schon als Kind. Das sagt sie in einer der Rückblenden, die immer mal wieder in die Kriminalgeschichte eingebaut werden. Tagträume sind das, die man dann sieht, Popstar ist da und sitzt umschwärmt in einer Talkshow. Oder Therapiesitzungen. Oder Szenen aus ihrem Alltag. Bühlig und Aboyan verschränken sie mit den Spiegelungen all jener, die Nelly begegneten. Den Erinnerungen ihrer besten Freundin, ihrer Ex-Beziehung, ihrer Eltern, dreier Datingverabredungen.
Es sind Geschichten nicht nur vom Abhandenkommen. Vom Missverstehen menschlichen Verhaltens, davon wie Erwartungen kollidieren und Kommunikation schieflaufen kann. Wie sich Menschen heute verpassen, entfremden. Bühlig erforscht sie in jeder von Nellys scheiternden Beziehungen, in jeder schieflaufenden Begegnung. Was alles – ein gar nicht kleines Wunder – niemals didaktisch wird, niemals ausartet zu einer Therapiesitzung.
Die Sonne traut sich während alldem nicht aus den Wolken über Stuttgart. Der Himmel hängt so grau herum, wie die Gesichter der Kommissare sind, die einfach nicht fassen können, was ihnen da begegnet. Ihr durchaus auch prekärer und leidlich bekannter Einsamkeitskrankenstand ist regelmäßig, aber (für „Tatort“-Verhältnisse) sehr dezent Thema.
Sie alle, die Milena Aboyan da in Kathrin Bühligs Labyrinth herumirren lässt, machen das ganz fabelhaft. Sie werden Menschen, selbst wenn sie nur als vermeintliche Schatten auftauchen aus dem Leben der Nelly Schlüter. Die ist Bayan Layla. Die stammt aus Syrien, ist 29 und seit gut zehn Jahren Schauspielerin. Vergangenes Jahr wurde sie für gut ein halbes Dutzend Filmpreise zumindest nominiert. In „Elaha“, Aboyans Abschlussfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg, war sie eine Deutsch-Syrerin, die um ihre (vor allem, aber nicht nur sexuelle) Selbstbestimmung kämpfte.
Unbeschadet kommt auch aus ihrem „Tatort“-Debüt keiner raus, dem man im kommenden Jahr diverse Fernsehpreise wünscht. „Überlebe wenigstens bis morgen“ ist mehr melancholische Seelenerforschung, mehr zutiefst traurige Gesellschaftsanalyse als Polizeifilm. Es wird einem ganz eng ums Herz von dem, was man da sieht. Man nimmt sich vor, wachsam zu sein, aufeinander zu achten. Sich Zeit zu nehmen. Zuzuhören. Könnten gut Vorsätze fürs neue Jahr werden. „Überlebe wenigstens bis morgen“ ist der wahrscheinlich notwendigste „Tatort“ des Jahres.
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