Lekki in Lagos am Abend. Während sich die weißen und gelben Minibusse durch das Mittelklasseviertel im Süden der nigerianischen Metropole schieben, hat sich eine Menschentraube vor dem Einlass des Open-Air-Clubs Greasy Tunes gebildet. Adekunle Gold, so sagen es Gerüchte, soll hier heute Abend auftreten. Der Afrobeats-Superstar hat gerade sein neues Album „Fuji“ eingespielt. Und dass ausgerechnet das Streamingportal Spotify das Konzert präsentiert, hat durchaus seine Logik.

Afrobeats, Streamingdienste, Social Media: In diesem Dreieck hat sich der afrikanische Kontinent als Wiege der Musik der Menschheit zum ersten Mal in der Geschichte der Popmusik auch kommerziell emanzipiert. Seither steht keine Stadt so sehr im Zentrum der globalen Aufmerksamkeit wie Lagos. Selena Gomez und Beyoncé, Drake, Chris Brown oder Ed Sheeran haben in Duetten mit Nigerianern wie Wizkid, Rema, Davido oder Ayra Starr ihre Millionenhits gelandet. „Wir brauchen die alten Major-Labels nicht mehr“, erklärt Adekunle Gold, von seinen Fans liebevoll AG Baby genannt, hinter der Bühne. „Früher waren wir die Bittsteller, heute fragen westliche Superstars und Investoren bei uns an.“

Bittsteller, das sind für Gold die Musiker-Generationen vor ihm, die noch mit dem Label „Weltmusik“ zu kämpfen hatten. Heute schauen Afrobeats-Stars von riesigen Reklamewänden auf die Stadtautobahnen von Lagos, werben für Cognac und Whiskey, zeigen sich in ihren Videos mit allem Luxus, wie man ihn aus R’n’B und Hip-Hop kennt. „Wir afrikanischen und westlichen Musiker brauchen einander“, sagt Gold. Er selbst hat zuletzt mit Pharrell Williams, Nile Rodgers und Ty Dollar Sign zusammengearbeitet: „Mein Image nützt meinen Partnern um ein jüngeres, diverseres Publikum zu erreichen. Und ich erreiche neue Hörer auf dem amerikanischen Markt. Auch wenn sie nicht alles verstehen. Sie spüren die Botschaften meiner Songs.“

Tatsächlich hat Adekunle Gold ein Talent dafür, seine Moral, seine Ratschläge und Weisheiten, in erhabene Melodien und Harmonien zu betten und Arrangements zu finden, die ebenso gut Werbespots für Eiscreme oder Parfum untermalen könnten. Dazu kommt der Nimbus des Bodenständigen: aufgewachsen in einem Lehrerhaushalt, von der Kirche und vom Bibelstudium geprägt und angetrieben vom Plan, seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen – eine typische Afrobeats-Biografie.

Nun aber steht der Sänger, der allein über Spotify monatlich zweieinhalb Millionen Hörer weltweit erreicht, auf der Bühne eines Hinterhofs. Begleitet von einer Liveband und drei Sängerinnen ruft er den Messias an: „If I call on You one time, pick up the call/ Jehovah, answer Your boy.“ Hunderte Telefone leuchten, alle singen den Refrain von „Pick Up“ mit – ein gesungenes Gebet, der Allmächtige möge einen mit Erfolg, Glück und Durchhaltevermögen segnen.

Egal, ob „Sade“, ein Liebessong, der vor elf Jahren AG Babys Karriere begründete, oder auch seine Partyhymne „High“: Das Publikum empfängt sie als Soundtrack für seine Selbstinszenierungen. Gruppen von Frauen in Abendgarderobe filmen sich gegenseitig, Männer in traditionellen Boubous und Designerjeans beleuchten mit ihren Handys die Modenschau. Es riecht nach Parfums, Kochbananen und Grillhähnchen – und während die Rauchschwaden die Augen tränen lassen, beschwören von Talking Drums und Gitarren getragene Fuji-Rhythmen eine Graswurzel-Note, die bei den eher sterilen Studio-Produktionen kaum noch zu spüren ist. Gold spricht von den Fuji-Legenden der Siebzigerjahre, von Paten wie Sikiru Ayinde Barrister, Kollington Ayinla und King Sunny Adé: „Sie haben mir den Weg bereitet.“

Wie aber kann einer, der sich auf Yoruba-Traditionen beruft, nicht nur einen Club in Lekki, sondern auch Stadien von Bombay über Los Angeles bis Bogota füllen? Welcher Zauber wohnt Afrobeats inne, dass das Genre seit Wizkids „Essence“-Remix mit Justin Bieber, dem ersten Billboard-Top-100-Hit aus Lagos, weltweit dreistellige Zuwachsraten feiert?

Auch in deutschen Cafés, Fitnessclubs oder Friseursalons kommt man kaum an ihnen vorbei: Hits von Davido, Ayra Starr und Burna Boy gehören zu den meistgestreamten Songs auf Spotify, wo man soeben die Sängerin und Songschreiberin Tems zur ersten afrikanischen Künstlerin mit über einer Milliarde Streams ausrief. 2002 knackte Rema mit Selena Gomez die Milliarde bereits mit einem einzigen Song, „Calm Down“.

Afrobeats-Stars werden in der Londoner O2-Arena, bei den Oscars und der Met-Gala hofiert. „Wir Lagosians sind eben für unseren Vorwitz bekannt“, sagt Adekunle Gold über den Geist einer jungen Generation von Self-Made-Männern und -Frauen. „Du musst selbstsicher und offen sein, um in dieser brutalen Stadt voranzukommen. Sei nicht dumm, sei nicht langsam!“ Ein Spruch, der sich so oder ähnlich auch auf den Minibussen in den Straßen wiederfindet.

Einen Tag später, im Clubraum des Greasy Tunes. „Afrobeats ist eigentlich nichts anderes als nigerianische Popmusik“, erklärt DJ Spinall, ein Starproduzent, der schon bei Festivals wie Coachella, Lollapalooza und Glastonbury seine großen Auftritte hatte. „Wir benutzen zwar Hip-Hop-Kicks und Snares, aber wir bleiben doch eindeutig in der Yoruba-Kultur verankert.“ Und doch gerät Afrobeats immer wieder in die Kritik. Texte und Videos predigten den ungehemmten Luxus, zeigten nur die reichen Gated Communities von Lagos, aber nicht die gleich nebenan auf Müllhalden und ins Meer gebauten Hüttensiedlungen. Selbst Burna Boy klagt, das Genre repräsentiere nicht die Realität Afrikas.

Spinall rückt seine Designer-Sonnenbrille zurecht. „Wir brauchen in Lagos einen gewissen Eskapismus, um mit dem täglichen Stress zurechtzukommen.“ Gleichzeitig habe die 24-Millionen-Stadt, diese größte Metropolenregion Afrikas immer das Crossover mit anderen Kulturen wie dem amerikanischem R’n’B hervorgebracht. „Nigerianer besitzen hochsensible Rezeptoren, unsere Basis ist die totale All-Akzeptanz.“ Er selbst habe zuletzt Afrofusion mit brasilianischem Funk gemischt, warum nicht auch mal chinesische Musik?

In seinen Plateauschuhen, den Bellbottom-Jeans und der bestickten Kappe könnte der DJ einem Blaxploitation-Film der Siebzigerjahre entstiegen sein – ein Hustler der nigerianischen Traditionen. Da war der legendäre Auftritt von DJ Spinall beim Coachella-Festival, als er zu einem Fela-Kuti-Track die Eyos, die Götterboten der Yoruba, tanzen ließ. Das Publikum in Amerika feierte. Doch es gab in Lagos auch Stimmen, die von Ausverkauf und kultureller Aneignung sprachen. Spinall zuckt mit den Schultern, er lacht: Religiöse Riten und Kunst seien in Afrika nicht zu trennen. Er habe eine Mission: „Ich sorge mich um die Kultur, die Afrobeats hervorgebracht hat. Allein gute Vibes reichen mir nicht als Essenz. Ich glaube vielmehr, dass Afrobeats heute mehr denn je eine Seele braucht!“

Wo könnte man diese Seele eher finden als in der Kalakuta Republic? Das zum Museum umgewandelte Wohnhaus von Fela Kuti in Lagos Island zog einst Verehrer wie Paul McCartney und Ginger Baker an. Brian Eno und David Byrne unternahmen Wallfahrten zum Hohepriester des Afrobeat. Afrobeat ohne S. Fela Kutis revolutionäre Fusion aus nigerianischem Highlife und afroamerikanischem Funk, die seine Bands Africa 70 und später Egypt 80 in halbstündigen Ekstasen feierten, scheint in einer anderen Zeit zu spielen. Wie auch die Idee der Kalakuta Republic, einer libertären Kommune.

Kuti lebte hier bis zu seinem Tod 1998 mit seiner Familie, seinen Kindern und Enkeln, seinen gut zwanzig Tänzerinnen, aber auch jeder Menge zwielichtiger Künstler und Spinner. Ein Flair aus Musik und Sex, Marihuana und Militanz schwebt durch die Ausstellung. Plattencover, Videos, Familienfotos, Bühnenkostüme und ein Regal voll bunter Schuhe für die Bühne. Botschaften gegen Kolonialismus, gegen Religionsimporte wie Christentum und Islam, gegen die heimische Militärdiktatur. Dafür nahm der Musiker regelmäßig Haftstrafen und Prügel in Kauf.

Bei einem Aufenthalt in Los Angeles 1969 hatte Fela, Sohn der Bürgerrechtlerin Funmilayo Ransome Kuti, die Ideologie der Black Panther aufgesogen. Bilder zeigen den Marsch einer gewaltigen Menschenmenge zum Regierungssitz in Lagos. Allen voran Fela mit dem Sarg seiner Mutter, nachdem 1978 Soldaten die Kalakuta Republic überfallen und Funmilayo Kuti aus dem Fenster geworfen hatten. Daraus resultierte Felas „Coffin for Head of State“, eine seiner eindrücklichsten Hymnen gegen die staatliche Willkür.

„Fela wollte mit seiner Musik das Bewusstsein der Menschen schärfen“, erklärt sein Enkel Made Kuti zwischen Vitrinen und Postern. Auf den Familienbildern taucht er nur als Kind auf. Heute scheint der sanfte Mann kaum etwas von der Wut des Großvaters zu verkörpern. 2021 erschien sein Debütalbum „Foreward“. „Die jungen Stars von heute haben sich vom Afrobeat genommen, was sie brauchen“, sagt Made. „Vielleicht sind sie nicht so politisch. Aber sie predigen den Stolz darauf, wo wir herkommen, wie wir aussehen“. Es müsse nicht immer gegen die Regierung gehen.

Wenn Made Kuti Afrobeat mit Jazz und Rock fusioniert, orientieren sich seine Lyrics an traditionellen moralischen Botschaften. „Ich habe als Kind in der Kalakuta Republic reichlich Chaos und Betrug erlebt. Das hat mich geprägt. Ich liebe nichts so sehr wie Ordnung. Deshalb fragen meine Songs, wie wir besser miteinander umgehen können, ja, wie man ein besserer Mensch sein kann.“ Vor dem Museum steht der Enkel zwischen Fela-Kuti-Denkmälern. „Mein Vater, Femi Kuti, mag mit seiner Protestmusik international erfolgreich sein“, sagt er. „Aber er wurde in den letzten zehn Jahren außerhalb des familieneigenen Schreins für kein einziges Konzert in Nigeria gebucht.“

Im Jazz Hole in Lagos-Ikoyi: An den Fenstern kleben Plakate von Sun Ra und Fela Kuti. Wer eintritt, blickt in eine Flucht aus Plattenregalen, Büchertischen, Memorabilien, vor allem von nigerianischen und afrikanischen Künstlern. Schwaden von frischgebrühtem Espresso mischen sich mit dem modrigen Geruch von alter Pappe und Papier. „Das Jazz Hole ist der beste Ort, um in Lagos Platten und Bücher zu kaufen“, sagt Adé Bantu und liest ein paar abgewetzte Vinylalben vom Boden auf. „Hier treffe ich Intellektuelle, Musikerfreunde, manchmal auch Schriftstellerinnen wie Amanda Ngozi Adichie auf einen Kaffee.“

Bantu, ein drahtiger Typ mit hellwachen Augen und seinem Markenzeichen, einem Fedora-Hut, spricht eine Mischung aus Deutsch, Yoruba und nigerianischem Englisch. Der Sohn einer deutschen Mutter und eines nigerianischen Vaters hatte sich in Köln als Rapper und mit den Brothers Keepers einen Namen gemacht, bevor er 2008 nach Lagos zog – und dort mit seiner Band Bantu zum Geburtshelfer der aufkeimenden Afrobeats-Szene wurde: „Burna Boy erzählte mir mal, dass sein Großvater ihm damals unser Album auf Kassette geschenkt und er es voll gefeiert hat.“

Da war nicht nur Bantus Melange aus Afrobeat und Sozialkritik, sondern auch seine Konzertserie „Afropolitan“: „Wir haben die brachliegende Livemusik-Szene in Lagos wiederbelebt.“ Bantu holte zu jedem der Konzerte je eine Legende, eine Frau und einen jungen Sänger zu seiner 13-köpfigen Band hinzu. „Adekunle Gold, Burna Boy, Yemi Alade, Tammy the Entertainer – alle waren sie da und standen mit den Größen der Väter-Generation auf der Bühne, bevor sie ihren Durchbruch schafften.“ Ein Job als Juror bei einer nigerianischen Version von „Deutschland sucht den Superstar“ vernetzte ihn weiter und tiefer. Man habe mit Bantu einen Dialog zwischen Tradition und Pop stiften wollen.

Wie aber sieht Adé Bantu der Sozialkritiker, den Weg vom Afrobeat zu Afrobeats? Was hält er vom Konsumfetisch der Jugend? Das Stadtbild von Lagos wird geprägt von Afrobeats-Stars, die für Pepsi, Nike und Tommy Hilfiger werben. „Die gehen da mit so einer gesunden Arroganz ran“, sagt Bantu und lacht. „Ich bin ein Fan von dem, was die jungen Leute machen. Es gibt dabei auch interessante Zwischentöne.“ Er zieht eine Vinylplatte von Adekunle Gold aus dem Regal. „AG streute schon immer moralische und gesellschaftskritische Weisheiten in seine Songs. Burna Boy klagt auf Instagram und auf der Bühne die Polizeibrutalität in Nigeria und die Korruption an.“ Was mutiger sei als gedacht, jedenfalls von Europa aus.

Wer sich kritisch äußert, riskiert die für Livemusiker überlebenswichtigen Sponsorengelder. Bantu spricht vom Brain-Drain, von fallenden Ölpreisen und einer wirtschaftlichen Rezession, die er auf mehr als 30 Prozent schätzt. In dieser Krise komme Afrobeats wie ein Heilsversprechen daher: „Das Internet hat die alten Gatekeeper hinweggefegt. Und plötzlich stehen wir Lagosians in der ersten Reihe, ist das nicht großartig?“ Vor der Tür fährt ein Danfo, einer der Kleinbusse, vorbei. „No condition is permanent“ steht darauf: Keine Situation währt ewig.

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