Wenn sich das Jahr dem Ende zuneigt, fängt man ja gern an Bilanz zu ziehen. Listen werden gemacht von Sachen, die besonders waren, an die man sich erinnern will im kommenden Jahr. Preise werden vergeben. Der beste Roman wird gekürt, die beste Serie. Wir würden, bevor wir’s bis zwischen den Jahren wieder vergessen, schnell den verstörendsten „Tatort“ auszeichnen.
Er geht an „Mike & Nisha“. Geschrieben hat ihn Annette Lober, Didi Danquart hat ihn in Szene gesetzt. Er spielt in Ludwigshafen – für Kriminalhauptkomissarin Lena Odenthal ist es die 82. Mörderjagd seit Ende Oktober 1989. Genauer gesagt im pfälzischen Frankenthal. Noch genauer am Emil-Nolde-Ring. Die Isenach ist nicht weit, viel Wald und die B9.
Die braucht man auch, um schnell weg zu kommen, nach Frankreich oder Pirmasens. Weil man am Emil-Nolde-Ring, jedenfalls nach dem, was man von ihm in „Mike & Nisha“ zu Gesicht bekommt, auf gar keinen Fall über einem der Zäune zwischen den Eigenheimen hängen möchte, nicht einmal halbtot.
Die Schaubs wohnen da. Und Gerlinde (rechts von ihnen) und Erwin (links). Gerlinde trinkt beim Vorlesen für ihre greise Mutter und auch sonst gern Kirschlikör. Den Erwin, der kontrollfreakige Protofaschist von nebenan, als notgedrungener Abstinenzler verweigert, was ihn aber auch zu keinem angenehmen Zeitgenossen macht.
Mike und Nisha könnten ihn vertragen, den Likör. Sie besuchen die Schaubs. Das sind Mikes Eltern. Die wollen in der Nacht mit dem Camper los in die Ferien. Und Mike und Nisha am nächsten Tag heiraten. Das wollten sie ihnen rasch noch sagen. Und dass Nisha schwanger ist.
Sie stehen vor der mit schmiedeeisernen Girlanden verzierten Tür des Hauses, in dem innenarchitektonisch und überhaupt die Zeit seit einem halben Jahrhundert stillsteht und das – wie der ganze Emil-Nolde-Ring (in „Mike & Nisha“) – gut als Museum für die Miefigkeit der frühen Siebziger taugen würde. Es ist hoher Sommer, die Sonne hat die Farben aus dem Film gebrannt wie die Zeit das Leben aus den Menschen in Frankenthal.
Dann explodiert alles
Eine Katze haben die jungen Liebenden – ein schönes Paar mit gruseligen Frisuren – mitgebracht und Blumen. Die Katze, das soll Vater Schaub beruhigen, löst keine Allergien aus. Was die Eltern allerdings mit der neuen Katze im Camper sollen, ist eine jener Fragen, die man sich in „Mike & Nisha“ nicht stellen sollte. Und auch wurscht. Weil die Katze keine fünf Minuten später tot ist.
Der Vater – Dreiviertelsommerhose, Sandalen – hat Nisha komisch angeschaut, den Sohn kann er sowieso nicht leiden. Als das mit der Schwangerschaft ruchbar wird, explodiert er. Dann explodiert überhaupt alles. Den Vater trifft ein Schürhaken am Kopf. Mike und Nisha steigern sich in einen Blutrausch.
Sowas kennt man ja. Von Familiendramen aus Boulevard-Blättern. Und von Horror-Serien. Und wäre an sich verstörend genug. Für die eingangs erwähnte Auszeichnung hätte das alles allerdings nicht gereicht. Auch wenn Lorber und Danquart schon bis dahin wirklich alles getan haben, einen beklommen ahnen zu lassen, dass man an der Seite von Lena Odenthal und ihrem immer größer werdenden Ludwigshafener Team unterwegs zur Lösung des dunklen Geheimnisses, das dieser Detonation des Bürgerlichen zugrunde liegt, in einem fort hin- und wieder wegschauen, manchmal einfach fliehen mag aus dem Wohnzimmer.
Es kommt ja noch schlimmer. Eine Katz- und Mausgeschichte schließt sich an. Eine achtzigminütige Fluchtgeschichte um gewaltige psychologische Löcher und kavernentiefe logische Brüche. Ein enormes Kunstwollen ist am Werk und geradezu abenteuerliches dramaturgisches Ungeschick. Shakespeare wird zitiert, das Drama der beiden Königskinder, die nicht zueinander kommen sollten, geht einem ans Herz, Lena Odenthals neu zusammengesetztes Ludwigshafener Team schon jetzt auf die Nerven. Ständig schwankt man zwischen Fasziniert- und Abgeschrecktsein.
„Mike & Nisha“ ist wie jener der Wollpullover, die man jetzt aus dem Schrank holt. Er ist schick, er wärmt einen, man mag ihn sehr. Aber er kratzt, übers Jahr ist er komischerweise zu eng geworden, zwickt am Arm und am Hals. Man will ihn ganz schnell wieder loswerden, wenn man in ihm steckt. Verstörend.
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