In einem gerade erschienenen „Traktat“ mit dem Titel „Défécondité“, was man mit Nicht-Fruchtbarkeit oder Ent-Fertilität übersetzen könnte, analysiert Olivier Rey die tiefgreifenden Ursachen für den Rückgang der Geburtenrate, die gerade in den Industrieländern mittlerweile derartig gesunken ist, dass die Zahl der Geburten weit unter dem liegt, was zu einer Erneuerung der Generationen notwendig wäre.

Rey ist Historiker und Philosoph der Bereiche Wissenschaft und Technik an der Sorbonne. Sein Buch „Défécondité“ ist bei Gallimard erschienen.

WELT: In der Einleitung Ihres „Traktats“ steht ein Zitat von Émile Zola, das besagt, dass eine Frau, der auf der Straße eine ganze Reihe von Kindern folgt, keinen Respekt mehr einflößt, sondern eher verlacht, ja von manchen sogar mit Widerwillen betrachtet wird. „Das wirkt komisch, sogar fast unpassend. Auf diese Weise vermehren sich doch nur Tiere!“ Warum führen Sie Ihre Leser mit diesem Zitat in Ihren Text ein?

Olivier Rey: Das Zitat von Zola stammt aus einem Artikel aus „Le Figaro“ im Jahre 1896, mit dem Titel „Dépopulation” (Entvölkerung). Émile Zola war ein eifriger Befürworter der Geburtenförderung (was ja auch sein Roman „Fécondité“, Fruchtbarkeit, aus dem Jahr 1899 beweist), und es bekümmerte ihn, zu sehen, dass die Franzosen immer weniger Kinder bekamen. Damals lag die Geburtenrate noch bei 2,8 Kindern pro Frau, wurde aber rapide geringer. Die derzeitige Situation, in der die Geburtenrate in den meisten Industrieländern weit unter den Wert gesunken ist, der zu einer Erneuerung der Generationen notwendig wäre, ist also kein plötzliches Phänomen, sondern die Fortsetzung einer langfristigen Tendenz.

WELT: Das rasante Konsumsystem und seine unvernünftige Dimension könnten in den „fortschrittlichen“ Ländern die Ursache für den Geburtenrückgang sein. Dieser „drückt, da es keine bessere Alternative gibt, eine Form der inneren Ablehnung aus“. Ist die Entscheidung gegen ein eigenes Kind eine Art Antwort auf das Chaos in der Welt und die eigene Entwicklung, die als „tödlich“ empfunden wird?

Rey: Nietzsche hat einmal gesagt, dass der moderne Mensch im Grund sehr widersprüchlich sei. Es gibt unzählige Beispiele für dieses oxymoronische „Gleichzeitig“, das uns so zu schaffen macht. Ich habe das Gefühl, dass eine wachsende Anzahl von Personen die theoretische Verurteilung dieser Welt und gleichzeitig die praktische Anpassung an die heutige Lebensweise so miteinander verbinden, dass sie zwar einerseits durch ihre Lebensweise an der Welt an sich teilhaben, sich andererseits jedoch weigern, Leben weiterzugeben, weil sie die heutige Welt ablehnen. Sie sprechen von „düsteren Zukunftsaussichten“, die einen davon abhalten, ein Kind zu bekommen. Doch in der Menschheitsgeschichte ist, wie Jacques Bainville bereits sagte, eigentlich immer alles negativ verlaufen, und wenn solche düsteren Vorahnungen unsere Vorväter davon abgehalten hätten, sich fortzupflanzen, dann gehörte das Abenteuer Mensch schon längst der Vergangenheit an. Der Rückgang der Geburtenrate hat ganz andere Ursachen.

WELT: Sie nennen „die Vernichtung des geeigneten Umfelds für die Betreuung eines Kindes“ zu den Ursachen des Geburtenrückgangs – dieses Umfeld beinhaltete früher nicht nur die Eltern, sondern auch den erweiterten Familienkreis und sogar die Nachbarschaft. Warum hat sich alles auf die Kernfamilie reduziert?

Rey: Ein Kind großzuziehen, und zwar mit allem, was dieses Wort „großziehen“ bedeutet, ist natürlich schon ein bedeutendes Unterfangen. Seit seinem Ursprung bis in die heutige Zeit haben die Menschen innerhalb von Gemeinschaften gelebt, die den natürlichen Rahmen für die Kinderbetreuung bilden. Die wichtigste Rolle spielen die Eltern, doch die ganze Familie ist daran beteiligt, ebenso wie die Nachbarschaft, das Umfeld. Dazu gehört jedoch, dass die Familie im weiteren Sinne auch in der Nähe wohnt und eine wirkliche Nachbarschaft existiert. Allerdings sind es gerade diese lokalen Anbindungen, also Nachbarn, auf die man sich verlassen kann, die der moderne Lebensstil hat verschwinden lassen. Die Großeltern beispielsweise, die doch so wichtig sind, leben nur noch ganz selten gleich nebenan. Damit ist die Kernfamilie auf sich allein gestellt, was eine enorme Verantwortung bedeutet.

Und das umso mehr, als sich der Kern der Familie – genau wie in der Physik, in der sich ja das Atom, das aufgrund seiner angeblichen Unteilbarkeit sogenannt wurde, als doch bis zum Kern teilbar herausgestellt hat – ebenfalls als immer weniger stabil erweist. Hinzu kommt, dass die meisten Menschen auf die Gehälter einer Arbeit angewiesen sind und die Eltern deshalb weniger zu Hause sind. Es wurden zwar Einrichtungen geschaffen, die den Eltern dabei helfen sollen, ihre Kinder in einem Umfeld großzuziehen, das für sie im Grunde nicht wirklich geeignet ist – vor allem natürlich Kinderkrippen und das Schulsystem. Allerdings hilft das den Eltern nur bedingt. Es nimmt ihnen auch etwas, weil es die Kinder nicht nur unterrichtet, sondern auch erzieht und sich immer häufiger in Bereiche einmischt, die früher allein der Familie vorbehalten waren, die jetzt immer häufiger nur der Versorgung dient. Oder um es so zu sagen: Alles, was getan wird, damit Eltern ihr Berufsleben mit dem Kinderkriegen vereinbaren können, macht es gleichzeitig weniger erstrebenswert, welche zu bekommen.

WELT: Sie erklären etwas prosaischer, gleichzeitig aber auch sehr direkt, dass die neuen Prinzipien, viele Kinder „unerträglich“ gemacht hat. Haben die modernen Methoden letztendlich die neuen Generationen auch davon abgehalten, Eltern zu werden, weil sie darin eine enorme Herausforderung sehen?

Rey: Die Tatsache, dass viele Kinder heutzutage nach dem Absetzen von Verhütungsmitteln geboren werden, ihre Geburt also gewünscht und geplant wurde, hat die Beziehung zwischen Eltern und Kindern grundlegend verändert. Die Position der Eltern ist ab dem Moment der Geburt schwächer: Wie können sie sich den Wünschen des Kindes widersetzen? Schließlich war es doch ihr eigener Wunsch, dieses Kind zu bekommen. Die Folge ist ein gewisser Autoritätsverlust, auch tauchen Erziehungsmethoden auf, die sogar raten, gänzlich darauf zu verzichten. Die sogenannte „positive“ Erziehung beispielsweise empfiehlt den Eltern, die Emotionen ihres Kindes zuzulassen und sich ihm nie zu widersetzen.

Ich habe erst kürzlich auf der Straße einen kleinen Jungen gesehen, der in seinem Kinderwagen saß und brüllte. Seine Mutter kniete neben ihm auf dem Gehweg und fragte ihn immer wieder flehend: „Was willst du denn? Was willst du?“ Ich begreife nicht, warum ein kleines Kind ein bestimmtes Verhalten von sich aus aufgeben sollte, das seine Eltern auf die Knie zwingt. Die Befürworter einer solchen Erziehung (oder eher Anti-Erziehung) scheinen nicht empfänglich zu sein für den Gedanken, dass ein Kind eine Autorität braucht, um sich gegen sie auflehnen zu können. Ein völliges Fehlen jeglicher Autorität verängstigt die Kinder und bringt sie dazu, immer heftiger nach dem Widerstand zu suchen, den sie nicht finden können. Statt sie zu befreien, produziert man auf diese Weise Kinder, die unausstehlich sind. Und hinter der Entscheidung, keine Kinder haben zu wollen, steckt zumindest bei manchen auch die feste Absicht, keine unausstehlichen Kinder haben zu wollen, wie sie ihre Anti-Erziehungs-Prinzipien hervorbringen würden.

WELT: Unsere Gesellschaft als Ganzes glorifiziert die Jugend. Sie bedeutet jetzt die Zeit in unserem Leben, in dem sich jeder den Möglichkeiten des Marktes grenzenlos hingeben kann: Nimmt einem ein Kind diese Freiheit?

Rey: Wir sind einem Lebensstil unterworfen, der die freie Wahl des Konsumenten aus dem, was der Markt ihm anbietet, das dominierende Modell der Freiheit macht. Somit müssen potenzielle Eltern abwägen, ob sie die für sie verfügbaren Vermögenswerte optimal nutzen wollen, oder sich ihren Kinderwunsch erfüllen – und dann auch die damit verbundene Einschränkung ihrer Konsumfreiheit in Kauf nehmen, ebenso wie weniger Freizeit und höhere unumgängliche Ausgaben.

Sicherlich spielen auch noch andere Faktoren eine Rolle. So will man sich zum Beispiel nicht von seinen Lieblings-Aktivitäten abhalten lassen, weil man sich um den Nachwuchs sorgen muss, was die eigene, persönliche Entfaltung hemmen könnte. An dieser Stelle sollte man mal darüber nachdenken, dass der Begriff „Entfaltung“ eigentlich für Blumen gilt, und dass diese nicht nur zum Blühen wachsen und aufgehen, sondern um der Fortpflanzung willen. Einem Menschen stehen natürlich viele Möglichkeiten zur Verfügung, ein fruchtbares Leben zu führen. Allerdings gehört dazu auch die Fortpflanzung, wie bei jedem anderen Lebewesen. Alles hat seine Zeit, und das ewige Beharren auf diesen „jungen“ Lebensstil, der einen davon abhält, Kinder zu bekommen, ist weniger ein Zeichen für Vitalität als eine morbide Besessenheit.

WELT: Früher kritisierte man Alleinstehende noch für ihren Egoismus, aufgrund ihrer Weigerung, die menschliche Rasse dieser Welt zu vermehren. Heute dagegen zeigt man mit dem Finger auf Personen, „die Kinder in die Welt setzen, ohne dazu in der Lage zu sein, ihnen ein glückliches Leben bieten zu können“. Was sagt uns das über die moderne Vorstellung von „Glück“?

Rey: Dieser Verdacht auf Egoismus hat sich tatsächlich ins Gegenteil verkehrt: Er betrifft nicht mehr diejenigen, die keine Kinder großziehen wollen, sondern diejenigen, die Ihrem Wunsch nach eigenen Kindern nachgeben und neue Lebewesen in die Welt setzen, in der sie möglicherweise unglücklich werden. Schon Nicolas de Condorcet sagte: Die Verpflichtungen der Menschen gegenüber denjenigen, die noch gar nicht existieren, „besteht nicht darin, ihnen das Leben zu schenken, sondern das Glück“. Das ist eine unglaubliche Verantwortung: Wie soll man denn für das Glück von freien Menschen bürgen können? Man kann seinen Kindern zwar Glück wünschen und alles tun, um einen Beitrag dazu zu leisten. Wenn man es jedoch garantieren will, so könnte sich hinter dieser Hingabe der Wunsch nach fortwährender Kontrolle verbergen, einem unsinnigen Ehrgeiz, für jemand anderen Schicksal zu spielen. Von seinen Kindern zu fordern, sie sollten glücklich sein, ist weniger großmütig als erdrückend.

WELT: Die Menschheit verwirklicht sich in der Folge der Generationen, wobei diese jedoch nie eine Selbstverständlichkeit war. Sie sagen sogar, die Abfolge selbst sei die „essenzielle und immer bestehende“ Schwierigkeit, ganz abgesehen von unseren kontingenten Problemen. Was genau meinen Sie damit?

Rey: Mensch zu sein heißt, dass man von dem abhängig ist, was uns unsere Vorfahren hinterlassen haben und ohne das wir nicht leben können, uns allerdings davon auch nicht erdrücken zu lassen, sondern unseren eigenen Weg zu gehen. Es ist schon richtig, dass zu den Schwierigkeiten, die einfach zum Menschsein gehören, andere spezifische Probleme unserer Zeit hinzukommen. Alles in allem erscheinen mir diese jedoch zweitrangig im Vergleich zu denen, die von der jeweiligen Epoche unabhängig sind. Speziell diese Schwierigkeiten nun als Grund dafür anzuführen, dass man keine Kinder bekommen will, mag einem wie eine weise Entscheidung vorkommen, angesichts so vieler verantwortungsloser Menschen, die es wagen, Unschuldige in eine kranke Welt zu setzen. Es könnte aber auch einfach ein bequemer Vorwand dafür sein, dem wichtigsten Abenteuer der Menschheit aus dem Weg zu gehen.

Die moderne Welt, die so viel von Originalität hält, preist alle möglichen Errungenschaften, so absurd sie auch sein mögen, wenn sie nur einzigartig sind und ungewöhnliche Fähigkeiten voraussetzen. Dabei übersieht sie jedoch Leistungen, die zwar ganz alltäglich, dabei aber viel wichtiger und bewundernswerter sind. Charles Péguy hat es so ausgedrückt: „Es gibt nur einen Abenteurer auf der Welt, und das sieht man sehr deutlich, vor allem in der modernen Welt: das ist der Familienvater. Die anderen, die schlimmsten Abenteurer, sind nichts, sind im Vergleich zu ihm nichts. Sie gehen absolut keine Gefahr ein im Vergleich zu ihm. (…) Er allein setzt sich den Stürmen des Meeres aus, er ist gezwungen, bei Sturm auf hoher See ein großes Schiff, einen vollen Körper, das gesamte Segel, dem Sturm auszusetzen; und egal, wie stark der Wind ist, er muss mit vollen Segeln navigieren.“ Péguy hat hier nur in einem Unrecht: Er vergisst die Mutter der Familie, die sowohl bei ruhigem Wetter als auch in stürmischen Zeiten oft diejenige ist, die das Schiff auf Kurs hält.

Dieses Interview erschien zuerst in „Le Figaro“, wie WELT Mitglied der „Leading European Newspaper Alliance“ (LENA). Übersetzt aus dem Französischen von Bettina Schneider. Die deutsche Fassung ist gegenüber dem französischen Original gekürzt.

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