Es ist Karneval in Brasilien 1977. In Recife, einer Hochburg, nähern sich die tagelangen Festivitäten auf den Straßen ihrem ekstatischen Höhepunkt. Marcelo (Wagner Moura) ist nicht in Feierlaune; er ist gerade nach einer tagelangen Fahrt mit seinem knallgelben VW Käfer aus São Paulo angekommen, abgekämpft, todmüde und todtraurig, was seine Augen durch jedes noch so charmante Lächeln hindurch verraten.
Marcelo ist aus der Metropole in seine Heimatstadt zurückgekehrt, um seinen kleinen Sohn wiederzutreffen, der bei den Großeltern lebt. Marcelo war früher ein erfolgreicher Forscher an der Universität, bis er mit einem einflussreichen Unternehmer in Konflikt geriet. Er ist auf der Flucht, sein Leben ist in Gefahr.
Schon in der Eingangsszene seines Films „The Secret Agent“ setzt der brasilianische Regisseur Kleber Mendonça Filho einen eigenwilligen Ton zwischen 70er-Nostalgie, groteskem schwarzem Humor und einer bedrohlichen Atmosphäre latenter Gewalt: Die Kamera streicht über eine einsame Tankstelle im Nirgendwo, bis im Vordergrund eine mit Pappkartons notdürftig abgedeckte Leiche erscheint, die vor sich hin rottet. Dem verstörten Marcelo in seinem Käfer erklärt der Tankwart, sein Kollege von der Nachtschicht habe einen Dieb erschossen, jetzt warte er seit Tagen auf die Polizei. Plötzlich kommt tatsächlich eine Streife vorbei, doch die will nur ihrem Zufallsopfer Marcelo unter fadenscheinigen Gründen einen Strafzettel verpassen.
Von 1964 bis 1985 herrschte in Brasilien eine Militärdiktatur, die manche, vor allem im Vergleich mit den Nachbarländern Chile und Argentinien, als „weiche“ Diktatur verharmlosten, die aber gleichwohl Tausende Opfer forderte. Mendonças Film zeichnet sein Land als failed state mit einer vollkommen korrupten Polizei und einem Klima der Angst, die sich unter den vordergründigen Wohlstand und die volkstümliche Lebensfreude schiebt.
Auch Marcelos Frau wählte einst den offenen Konflikt mit dem herrschenden System und bezahlte dafür mit dem Leben. So kehrt er nun nach Recife als gebrochener Witwer zurück. Er kann aber auf ein oppositionelles Netzwerk zurückgreifen, das ihn in einem Haus mit anderen politischen Flüchtlingen unterbringt und mit einem Job versorgt, ausgerechnet im Archiv des Meldeamts, wo er die (Nicht-)Aktivitäten der benachbarten Kriminalpolizei aus nächster Nähe verfolgen kann.
Die jovial-brutalen Beamten benehmen sich nach Gutsherrenart und sind selbst in dubiose Machenschaften verwickelt. Menschen werden ermordet und des Nachts in Kanälen anonym entsorgt; organisierte Kriminalität und die Ausschaltung Oppositioneller sind hier zwei Seiten einer Medaille. Auf Marcelo sind Auftragskiller angesetzt, die in Seelenruhe und professionell ihre Falle planen, während er sich um die nötigen falschen Papiere bemüht, um mit seinem Sohn ins Ausland fliehen zu können.
Diese Thrillerhandlung, in der sich die Schlinge immer enger zieht, bildet aber nur den Vordergrund eines filmischen Gemäldes, in dem Mendonça ein Panorama seiner Heimatstadt in jener zwar finsteren, aber zugleich nostalgisch leuchtenden Epoche entwirft. Er nimmt sich viel Zeit, seine vielen Nebenfiguren (mit durchweg grandiosen Schauspielern) in ihrem Alltag zu porträtieren. Die rüstige Greisin, die ihr Haus zur Zuflucht macht. Der Großvater, der ein kleines Kino betreibt. Der jüdische Schneider, der immer wieder seine „Kriegswunden“ vorzeigen soll (gespielt vom legendären Udo Kier in einem der für ihn typischen auratischen Gastauftritte). Die Kolleginnen auf dem Amt. Und auch die routiniert ihren Job versehenden Killer, deren Welt fast eine soziologische Studie für sich ist.
Die Solidarität und Menschlichkeit der verfolgten Opfer und ihrer selbstlosen Helfer bildet das Gegengewicht zu der restlos kaputten Sphäre von Politik und Medien. Der Karneval symbolisiert das Chaos, in dem die Vernunft eines Technikers wie Marcelo unterzugehen droht, die von Abgründen der Gewalt bedrohte Zivilisation. „Ordem e Progresso“, „Ordnung und Fortschritt“, lautet die Losung auf der brasilianischen Nationalflagge, die hier nur zynisch wirkt.
Tatsächlich sind die Menschen getrieben von ihren Ängsten, ihrer Gier und irrationalen, postfaktischen Überzeugungen. Als Running Gag geistert ein abgeschnittenes menschliches Bein durch den Film, das im Maul eines Hais gefunden wurde. Die öffentliche Hysterie darum findet ihr Pendant in Spielbergs damaligem Kassenschlager „Jaws“, der im Kino des Großvaters läuft und sich in die Träume von Marcelos Sohn schleicht.
Der Film, der im Mai in Cannes die Preise für die beste Regie und den besten Hauptdarsteller gewann, ist ein dichtes Gewebe von Anspielungen und Motiven. Bis in kleinste Details von Wahlplakaten, Telenovelas und Radioprogrammen lässt der 1968 geborene Mendonça das verschwundene Recife seiner Kindheit wiederauferstehen, dem er zuletzt einen Dokumentarfilm gewidmet hat („Retratos Fantasmas“, 2023).
Mendonça steht für eine originelle Form des zeitgenössischen politischen Kinos, das seine Stoffe im Regionalen findet, aber auf globale Konflikte zielt. Zum Star wurde er 2019 mit „Bacurau“, einem wilden, blutrünstigen Genremix, der eine zeitgenössische Western-Story in den abgelegenen Nordosten Brasiliens verlegte: Eine Gruppe sadistischer Killer aus den USA wählt ein abgelegenes Dorf in Pernambuco zum Schauplatz eines grausamen Ballerspiels (auch hier mit Udo Kier in einer gruseligen Glanzrolle).
Im Tarantino-Style erzählte Mendonça da eine Parabel auf den Widerstandsgeist der lange diskriminierten afrobrasilianischen Bevölkerung gegen die Zerstörung ihrer Welt und ihrer Traditionen – ein finster schillerndes Meisterwerk, das nicht nur im erneut vom rechten Autoritarismus bedrohten Brasilien für heftige Debatten sorgte.
„The Secret Agent“, der jetzt in die deutschen Kinos kommt, teilt mit „Bacurau“ das virtuose Spiel mit Tempi und Perspektiven, mit Vorder- und Hintergrund, und auch den splatterhaft-blutigen Showdown. Auf brillante Weise gelingt es gleichwohl, den schmerzhaften Kern des Familiendramas nur indirekt zu entblößen. Mehr und mehr wird das Erzählen, das Erinnern und die Überlieferung selbst zum Thema.
Wie in „Bacurau“ die Handlung im – nur vermeintlich lachhaft-provinziellen – „Historischen Museum“ des Dorfes schon vorab zum Mythos geworden ist, so wird Marcelo im Rückblick zur historischen Figur, zum Gegenstand von mühsamer Archivarbeit junger Menschen heute, die ein immer noch nicht restlos aufgeklärtes Kapitel brasilianischer Zeitgeschichte neu schreiben wollen. Doch ist Erinnerung nur ein schwacher Trost.
So ist der „Geheimagent“ des Titels höchst ironisch. Wagner Moura ist die perfekte Besetzung für diese Rolle des sensiblen, geistigen, rationalen Menschen, der seine Identität verbergen muss und in einer aus den Fugen geratenen Welt unter die Räder kommt. In Mouras Blick liegt selbst in den kurzen Momenten des Glücks eine tiefe Melancholie, ein Wissen um die Vergeblichkeit eines Kampfes, für den die Zeit noch nicht gekommen ist. Vielleicht ist dieser resignierte Blick an diesem großen Film gerade heute besonders berührend, wo viele am liebsten vor der Gegenwart in Deckung gehen würden, bis die Zukunft wieder heller leuchtet.
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