Es gibt ein grisseliges Video vom 27. September 2009 vom Zürcher Filmfestival (ZFF). Darin stehen die Festivalgründer Karl Spoerri und Nadja Schildknecht vor einem erwartungsvollen Publikum und verkünden die schlechte Nachricht: „Roman Polanski wird heute nicht kommen. Er wurde auf ein US-Auslieferungsbegehren hin gestern bei seiner Ankunft in Zürich verhaftet. Uns fehlen die Worte.“

Jedoch, was im ersten Moment wie eine Katastrophe erschien, stellte sich für das junge Festival als Glücksfall heraus. Denn Zürich war von Anfang an anders als Cannes, Berlin oder Venedig. Es pflegte ein affirmatives Verhältnis zu Hollywood, kein kritisches, es wollte Stars über seinen grünen Teppich spazieren sehen statt innovative Regisseure und kontroverse Themen. Und es hat zwei weitere Alleinstellungsmerkmale: Es ist eine kommerzielle Unternehmung – und bekommt kaum Geld vom Staat. Zürich ist das Anti-Modell zu den altgedienten Großfestivals, die nur existieren können, weil der Staat sie alimentiert, und die fürchten müssen, dass er dies nicht mehr dauerhaft tun wird.

Fragen Sie mal Filminteressierte, wem die Festivals von Cannes oder Berlin eigentlich gehören. Kaum jemand wird eine präzisere Antwort geben können, außer dass sie von der öffentlichen Hand getragen werden. Die Antwort für Zürich war von Anfang an klar: Das Ereignis gehört Privatleuten. Und weil das so war, taumelte es in seinen Anfangsjahren öfter am Rande der Pleite. Dass Schildknecht mit dem obersten Banker der Credit Suisse liiert war, half, aber nicht entscheidend.

Die linke Stadtregierung wollte das Glamour-Event nicht, ihr wäre es sogar am liebsten gewesen, man hätte „Zürich“ aus dem Titel getilgt. Die etablierten Schweizer Festivals in Locarno und Solothurn wollten es nicht, es drohte ihnen Aufmerksamkeit zu stehlen. Die Filmkritik wollte es nicht, der Kritiker der „Neuen Zürcher Zeitung“ bezeichnete eine frühe Einladung an Sylvester Stallone als „Schnapsidee“. Der Name des Kritikers lautete Christian Jungen. Wir werden ihm noch begegnen.

Doch zunächst kam Roman Polanski und wurde dem Festival von der Polizei weggefangen, wegen des alten Missbrauchsverfahrens aus Los Angeles. Das machte weltweit Schlagzeilen, auch in der Filmhauptstadt – und plötzlich mussten die ZFF-Lobbyisten in Hollywood nicht mehr erklären, was sie jeden Oktober am Ufer des Zürichsees trieben.

Stars – zumindest die aktuellen – kommen nicht einfach, weil ihnen die Nase des Direktors gefällt. Sie reisen, um ihren neusten Film zu bewerben, der demnächst herauskommt, und weil im Frühjahr wenig große Filme starten, kriegt die Berlinale im Februar wenig von dem Starsegen ab – anders als Cannes (Mai), Venedig und Toronto (September) und Zürich (Oktober). Letztere sind ideale PR-Trampoline für Herbstfilme, und Zürich strahlt stark in den deutschsprachigen Markt. Die Schweizer zahlen den Stars auch An- und Abreise und Unterkunft, anders als die klassischen Festivals; nur Antrittsgeld, betont das ZFF, erhalten sie nicht.

Das wäre auch der direkte Weg zur Hölle, zählt man nur die Stargäste der vergangenen fünf Ausgaben auf: Russell Crowe und Dakota Johnson, Kate Winslet und Jude Law, Pamela Anderson und Colin Farrell, Benedict Cumberbatch und Sharon Stone und Johnny Depp, Jessica Chastain und Mads Mikkelsen und Diane Kruger, Alicia Vikander und Liam Neeson und Charlotte Gainsbourg, Ben Kingsley und Amanda Seyfried und Alexander Skarsgård. Und. Und. Und.

Trotzdem muss man über Geld reden. Die Berlinale hat einen Etat von 33 Millionen Euro, Cannes 25 und Venedig 23. Aber das sind A-Liga-Dimensionen. B-Festivals müssen mit erheblich weniger auskommen, München hat rund fünf Millionen Euro und Hamburg 1,5. Und Zürich? Zürich hat 14 Millionen – Franken.

Die Finanzierungsstruktur der großen Festivals ähnelt sich: Rund 60 Prozent des Budgets kommen vom Staat, 15 Prozent werden durch Kartenverkäufe generiert, weitere 15 von Sponsoren und die restlichen zehn durch Mieten für Stände beim Filmmarkt, Akkreditierungs- und Anmeldegebühren sowie Merchandising.

Völlig anders in Zürich. Gut 60 Prozent des Etats tragen Sponsoren bei (die größte Schweizer Bank UBS, Mercedes, NZZ, Breitling, Toblerone, etc.), 15 Prozent stammen aus Ticketeinnahmen, zehn von der Öffentlichen Hand, sechs von Gönnern (Vorsitzender des Donoren-Clubs ist Hans Syz, Präsident der Privatbank Maerki Baumann; all die alten Zürcher Privatbankiers-Familien sind dabei), sechs aus Stiftungsgeldern.

Das Festival ist also etabliert, wovon 130.000 verkaufte Eintrittskarten zeugen – obwohl ein Ticket für den neuen Edward-Berger-Film „Ballad of a Small Player“ dieses Jahr 89,90 Franken kostete; für die anderen Premieren bis zu 60, für normale Vorstellungen zwischen 27 und 33.

An den heftigen Preisen – die Berlinale verlangt zwischen 15 und 20 Euro – hat sich wenig geändert, seit das ZFF vor zehn Jahren seinen Besitzer wechselte: Spoerri und Schildknecht verkauften es an die „Neue Zürcher Zeitung“, die „NZZ“. Das entbehrte nicht einer räumlichen Logik, denn das Festivalzentrum steht auf dem Sechseläutenplatz im Zentrum der Altstadt, und das NZZ-Stammhaus ist nur 100 Meter entfernt. Aber eine Zeitung als Festivalbetreiber?

Es gibt weltweit rund 3000 Filmfestivals, die regelmäßig stattfinden, aber kein anderes im Besitz einer Zeitung. Generell sind Privatleute als Besitzer großer Festivals ein Tabu. Das in Karlovy Vary gehört der tschechischen Investorengruppe Rockaway Arts, TriBeCa in New York einer Firma von James Murdoch, einem Sohn des Medienmagnaten Rupert Murdoch, und El Gouna dem ägyptischen Mobilfunkmilliardär Naguib Sawiris.

„Als ich 2018 zur ‚NZZ‘ gestoßen bin, war ich etwas verwundert, dass das Unternehmen ein Filmfestival besitzt“, erinnert sich Felix Graf, heute CEO der ‚NZZ‘. Gewiss, man wollte diversifizieren, übernahm das Swiss Economic Forum, das nationale Gegenstück zum World Economic Forum in Davos – aber ein Filmfestival? „Unsere Journalisten waren sehr zurückhaltend bei der Berichterstattung über das ZFF, da es sich im Besitz unseres Unternehmens befand“, sagt Graf. „Persönlich fand ich das bedauerlich, denn die Stars hätten hier vor der Tür gestanden. Mit Blick auf das journalistische Berufsethos konnte ich diese Zurückhaltung etwas nachvollziehen.“

Ein Event wie das ZFF braucht Gönner. „Einige ehemalige Donatoren“, so Graf, „waren der Ansicht, das Festival habe jetzt die reiche ‚NZZ‘ im Rücken, und fragten sich, warum sie das ZFF weiterhin subventionieren sollten. Es gab in einigen Kreisen die Befürchtung, die ‚NZZ‘ könnte mit dem ZFF viel Geld verdienen. Die öffentliche Hand war von Beginn an zurückhaltend gegenüber dem Festival – das hat sich mit dem Einstieg der liberal-bürgerlichen ‚NZZ‘ nicht entschärft.“ Hat die NZZ denn Geld damit verdient? „Ich würde sagen, es war über diese zehn Jahre eine sehr aufwendige Aktivität.“

Und so informierte Felix Graf Ende 2024 den künstlerischen Leiter des Festivals, Christian Jungen, dass die ‚NZZ‘ in einem offenen Verkaufsprozess neue Eigentümer suchen würde. Jungen, der eine Doktorarbeit über den roten Teppich in Cannes und eine Biografie des früheren Berlinale-Leiters Moritz de Hadeln geschrieben hatte, der zuerst Filmredakteur der ‚NZZ‘ und dann Kulturchef der ‚NZZ am Sonntag‘ war und vor fünf Jahren das Festival als Direktor übernahm – ausgerechnet Jungen sollte mithelfen, einen neuen Besitzer zu suchen (und damit einen neuen Chef für sich selbst).

Eine delikate Aufgabe. Zürich hat sich in den zwei Jahrzehnten seiner Existenz aus der C-Liga an die Spitze der Festival-B-Liga hochgearbeitet, es bringt der Stadt einen volkswirtschaftlichen Mehrwert von über zehn Millionen Franken und ist ein guter zweiter Aufschlag für Filme, die in Cannes, Venedig oder Toronto Uraufführung feiern. Ab und zu fällt dem ZFF eine Perle als Weltpremiere in den Schoß, so, als es Jungen gelang, den neuen Bond „No Time to Die“ am gleichen Abend zu zeigen, an dem er in London Premiere hatte.

Es habe Bewerber um das ZFF gegeben, sagt Christian Jungen, „sehr reiche Individuen aus dem Medien- und Entertainmentbereich“. Aber: „Dieses Festival ist stark verankert in der Bevölkerung, die erwartet, dass die Leitung vor Ort ist. Kein Milliardär von irgendwo, der für seinen missratenen Sohn einen roten Teppich kauft.“ Und so reifte in dem 52-Jährigen – „Ich bin ordoliberal und habe den Wirtschaftsteil in der Zeitung immer gleich gerne gelesen wie das Feuilleton. Bei mir zu Hause stehen immer noch am meisten Filmbücher, aber auch viele Biografien über Unternehmer“ – eine Idee: Warum das Festival nicht selbst kaufen?

So hat das ZFF nun fünf Besitzer. Sie sollen, so eine Schätzung in dem Wirtschaftsmagazin „Bilanz“, eine „kleine einstellige Millionenzahl“ an die ‚NZZ‘ gezahlt haben, die ihrerseits für den Erwerb des ZFF einst „etwas über zehn Millionen Franken“ auf den Tisch legte. Außer Jungen gehören zum Quirinquirat Felix E. Müller (langjähriger Chefredaktor der ‚NZZ am Sonntag‘), Rita Guetg (Fädenzieherin mit Entscheidungsträgern aus Hollywood), Max Loong (Schauspieler und Moderator mit Wohnsitz Los Angeles) und der Vermögensverwalter Marek Skreta, lange bei Credit Suisse und der UBS.

Die fünf bewegen sich auf schwierigem Gelände. Das Finanzierungsmodell „Berlinale“ stößt an seine Grenzen; die klamme öffentliche Hand wird früher oder später ihre Zuschüsse reduzieren müssen, und das wird noch stärker für kleinere Festivals gelten. Zum anderen sind auch Sponsoren keine sichere Bank, wie man in Toronto schmerzlich feststellen musste, als der Telekommunikationsgigant Bell sich nach 28 Jahren plötzlich zurückzog (und die kanadische Regierung einspringen musste).

Auch die Sache mit den politischen Abhängigkeiten – überdeutlich geworden bei dem Palästina-Aufruhr auf der Berlinale – ist zwiespältig. Vor ein paar Jahren geriet der Kinderfilm „Der kleine Häuptling Winnetou“ in den Verdacht kultureller Aneignung, der Schweizer Verleih bekam kalte Füße, die Crew bekam einen Interview-Maulkorb verpasst. Das ZFF zeigte den Film, trotz heftigen Drucks, und veranstaltete eine Online-Befragung: Von 100.000 Teilnehmern fanden es 98 Prozent gut, dass er gezeigt wurde. Zürich ist ein dezidiert unpolitisches Festival, von dort kommen keine Appelle für Weltoffenheit, Freiheit und Solidarität. Und Roman Polanski war, ein paar Jahre nach seiner Freilassung, dort ein gerngesehener Gast.

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