Kreuzberg liegt am Atlantik, zumindest an diesem Nachmittag Ende Oktober. Rund einhundert Künstler, Forscher, Intellektuelle und interessierte Zuschauer versammelten sich dort, im Berliner „Salon am Moritzplatz“, zur Eröffnung eines Kongresses mit dem ambitionierten Titel „Kritik der transatlantischen Vernunft“. Draußen vor den deckenhohen Fenster drehen die Autos ihre Runden im Kreisverkehr, drinnen herrscht konzentrierte Stimmung im akademisch geprägten Publikum. Vorn in der zweiten Runde nimmt ein Mann im dunkelblauen Anorak und silbern-leuchtendem Haar Platz, ja, es ist tatsächlich Rainald Goetz, der „elder statesman“ der Popliteratur.
Zur Eröffnung greift sich Jan Werner-Müller, Politologe an der Princeton-University und Organisator der Konferenz, das Mikrofon. Er spricht von einem „Gefühl der Entfremdung“ zwischen den USA und Deutschland. Im Anschluss an die Rede von J.D. Vance im Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz habe man mit der Planung des Kongresses begonnen, der neben Müller von den Berliner Kulturwissenschaftlern Philipp Felsch, David Höhn und ihrem Essener Kollegen Danilo Scholz organisiert wird.
„Kritik“ im Kantschen Sinne, das heißt hier am Moritzplatz, die einstigen Paradigmen, Grenzen und Möglichkeiten der beiden Staaten auf ihre Gültigkeit für Gegenwart und Zukunft hin zu untersuchen. Eingangs stellt Müller die rhetorische Leitfrage ans Publikum, welche kulturellen und politischen Ressourcen in der Beziehung beider Länder heute noch vorhanden seien. „Lasst uns diese Beziehung noch einmal Revue passieren lassen, wie sie wirklich war, mit all ihren Höhen und Tiefen.“
Mitorganisator Philipp Felsch erinnert an das ehemals von Bewunderung geprägte Verhältnis Europas zu den Vereinigten Staaten. Er kommt auf Curzio Malapartes Roman „Die Haut“ zu sprechen. Darin schildert Malaparte, ein exzentrischer italienischer Kriegsreporter mit deutschen Wurzeln, die Ankunft der Amerikaner in Neapel im Oktober 1943. Vor der Kulisse des zerstörten und sittlich völlig verwahrlosten „alten Europa“ werden die US-Truppen bei der Ankunft in der Stadt als Befreier und gottgleiche Lichtgestalten wahrgenommen.
Felsch spannt den Bogen in die Gegenwart und weist darauf hin, dass die traditionelle Rolle der CDU als Brückenbauer über den Atlantik bröckele. Stattdessen sei es ausgerechnet die AfD, die jüngst mit zwei Anträgen im Bundestag die Regierungsparteien aufgefordert habe, enger mit der Trump-Administration zusammenzuarbeiten.
Gedenken als gemeinsames Band
Das unter dem Leitmotiv „The 51st State“ stehende Panel an diesem Tag eröffnet Jacob Eder mit einem Vortrag über die „Staatsräson avant la lettre.“ Eder, der Geschichte an der Berliner Barenboim-Said-Akademie lehrt, kommt auf die Holocaust-Gedenkkultur im Spannungsfeld deutsch-amerikanischer Beziehungen zu sprechen. Ausgangspunkt von Eder ist die These, dass das transatlantische Gedenken an den Holocaust die Wiederentdeckung gemeinsamer westlicher Werte ist. Stringent legt er das komplizierte Zusammenspiel zwischen bundesdeutscher Gedenkkultur und Außenpolitik seit den 70er-Jahren dar, das spätestens mit dem deutschen Mandat zum Kosovo-Einsatz und dessen Legitimation aus dem Geist des „Nie wieder“ seinen realpolitischen Niederschlag fand.
Eder führt aus, dass Deutschland zunächst jahrzehntelang damit gehadert habe, das Gedenken an den Holocaust als Staatsräson zu etablieren. Als Beispiel nennt Eder, der mit „Holocaust-Angst“ bereits ein Buch zu dem Thema vorgelegt hat, Helmut Kohls Widerstand gegen das „Holocaust Memorial Museum“ in Washington, in dem er die Gefahr sah, antideutsche Tendenzen zu befördern. „Soll das die Art und Weise sein, wie die Vereinigten Staaten ihren wertvollsten europäischen Verbündeten behandeln?“, habe Kohl damals in kleiner Runde gegen das geplante Museum gewettert.
Rainald Goetz in Reihe zwei schreibt eifrig mit. Die Heizung ist aus, durch die deckenhohen Fenster schleicht der nasskalte Berliner Herbst.
„Zwischen Affirmation und Ablehnung“
Im Anschluss trägt der Göttinger Jura-Professor Florian Meinel zum Konzept der Westbindung im deutschen Verfassungsrecht vor und führt aus, dass die westdeutsche Verfassungsidentität vornehmlich eine Eingliederung in den Westen beinhaltet habe. Eine Alternative zum Transatlantismus habe verfassungsrechtlich nie bestanden. Birgit Joos, Kunsthistorikerin und Archivarin, beschäftigt sich in ihrem Vortrag mit der Kanonbildung der Nachkriegsmoderne in der Bundesrepublik, Daniel Steinmetz-Jenkins von der amerikanischen Wesleyan University widmet sich der europäischen Außenpolitik Henry Kissingers und der Kritik an ihr vonseiten der amerikanischen Neokonservativen.
Den Tag beschließt Diedrich Diederichsen mit einem fulminanten Vortrag unter dem Titel „Outlaw, Dandy oder Situ – Rebellische Identitäten für BRD-Jugendliche aus dem Angebot der Alliierten“. Vorgestellt als „Germanys best-known pop theorist“, eröffnet er mit dem Bekenntnis, dass er selbst im Leben gleich mehrere pro-amerikanische und anti-amerikanische Phasen durchlaufen habe: „Die anti-amerikanischen Phasen waren dann meisten pro-britische Phasen“.
Zu den Vorzügen der Kultur der Alliierten zählt Diederichsen, dass man als westdeutscher Nutzer und Rezipient von amerikanischer Softpower stets eine Wahl zu haben schien. „Man konnte bei den Alliierten wählen zwischen Identifikation und Ressentiment, zwischen Affirmation und Ablehnung, wobei man das jeweilige Gegenmodell immer gleich mitgeliefert bekam“. Demnach zählt für Diederichsen das Transatlantische zur Kategorie, die dem Löchrigen und Fragilen eine Bühne bot.
„Die Feinde unserer Feinde …“
Mittlerweile hat sich der Salon gefüllt, auch die Heizung läuft jetzt auf Hochtouren. Die Zuschauer, die auf der Fensterbank Platz genommen haben, stehen nacheinander auf, weil es mit der Zeit sehr heiß um die Hinterteile wird.
Diederichsen kommt derweil auf die deutsche Sektion der Situationisten zu sprechen. Einer der bekanntesten Vertreter der Bewegung, die sich als geistiger Nachfolger der Surrealisten in Frankreich – ebenfalls ein Alliierter – sah, war Dieter Kunzelmann, Mitbegründer der „Kommune I“ und späteres Mitglieder der linksmilitanten „Tupamaros West-Berlin“. Um ihn scharten sich spätere „68er“ wie Rudi Dutschke und Fritz Teufel, aber auch Charaktere wie Bernd Rabehl, der eine horstmahlerhafte 180-Grad-Kehre machen sollte und sich im NPD-Umfeld zu bewegen begann. Zentrales Leitorgan – oder „politischer Unterleib“, wie es Diederichsen ausdrückt – war die künstlerisch orientierte Zeitschrift „SPUR“, die durch anarchische Aktionen und manifestartige Texte provozierte.
In der Gegenwart sieht Diederichsen keine Strömungen, die diesem „westdeutschen Projektionstheater“ aus unterschiedlichsten, untereinander verhassten Bewegungen und Gruppen gleich kämen. „Das Spiel ist seit 89 sowieso vorbei“, meint der Autor eines Buchs mit dem megalomanisch anmutenden Titel „Das 21. Jahrhundert“. Den Abend beschließt Diederichsen mit einem halbironischen Bonmot ausgerechnet von Rainald Goetz: „Die Feinde unserer Feinde sind auch unsere Feinde.“ Ob das im Sinne Kants gewesen wäre?
Der Kongress „Kritik der transatlantischen Vernunft“ findet vom 30. Oktober bis einschließlich 1. November im Berliner Salon am Moritzplatz statt.
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