Eine neue Dokumentation zeigt den Rapper Haftbefehl im freien Fall. Ein Schreckensmoment folgt auf den nächsten: Absturz, Überdosis, eine zerstörte Nase. Ist das schonungslos ehrlich oder unwürdig?
Der Schock kommt gleich mit der Eingangsszene, als er sich auf einen Sessel fallen lässt, aufgequollen und fahl. Er röchelt mehr, als er atmet, und raucht trotzdem gierig. Und man braucht einen Moment, um festzustellen, dass dieser dramatisch aussehende Mann wirklich Haftbefehl ist, Deutschlands wohl wichtigster Straßenrapper, weil noch etwas irritiert: seine Nase. Sie ist merkwürdig deformiert, die Spitze ist eingefallen und verdeckt die Löcher. So sehen also Menschen aus, die sich die Nasenscheidewand kaputtgekokst haben. "Mir geht's gut, Brudi", sagt Haftbefehl. "Ich wär gestorben, wenn ich nicht da reingegangen wäre. Ich war schon tot."
Man hat es in der neuen Netflix-Dokumentation "Babo - Die Haftbefehl-Story" augenscheinlich mit einem schwer kranken Protagonisten zu tun. Warum er sich in diesem Zustand filmen lässt, erklärt Haftbefehl eingangs selbst: "Falls mir irgendwann was passiert, dass meine Geschichte richtig erzählt wird. Aus meiner Sicht." Und doch wirkt es so, als seien es auch die Filmemacher, die sich rechtfertigen für das, was kommt.
Die Geschichte von Haftbefehl, bürgerlich Aykut Anhan, Sohn kurdischer Einwanderer, beginnt im Mainpark, einer Hochhaussiedlung in Offenbach am Main. Hier wohnen die Migranten und Mittellosen, fernab des bürgerlichen Sichtfelds. Wo getickt wird, abgezogen und zugeschlagen, wo ständig die Aufzüge kaputt sind. Wer nicht dort lebt, weiß das aus Haftbefehls Texten.
Depressionen im Ghetto
Aber mittellos war der Vater nicht, zumindest nicht durchgängig. Bei Anhans, so erfährt man in der Doku, lagen schon mal zwei Millionen Mark unter dem Teppich versteckt. Glücksspielgeld, das so schnell ging, wie es kam. 1999, da war Haftbefehl 15, hängte sich der Vater auf. "Depressionen im Ghetto, ich bin nur Sohn meines Vaters", auch das ist eine von Haftbefehls Zeilen.
Man ahnt bereits, wo die Wurzeln dieses späteren Kontrollverlusts liegen, der womöglich von Anfang an eingeschrieben war bei einem, der mit 13 zum ersten Mal Kokain probierte und nie wieder aufhörte, der nach dem Tod des Vaters die Schule schmiss und Dealer wurde, der ein Junge aus dem Mainpark war.
Zunächst aber folgte ein unwirklicher Aufstieg. Die ersten billig produzierten Musikvideos ließen sich leicht belächeln. Der schlaksige Fast-Zwei-Meter-Mann Haftbefehl schrie und nuschelte gleichzeitig ins Mikrofon, reimte Satzenden, die sich nicht reimen und verwendete Wörter, die kaum einer kannte. Ein Potpourri aller Sprachen, die sich auf den Straßen Frankfurts und Offenbachs tummeln, gerappt wie aufgeschnappt.
Vom Gangster zum Star
Wie bei jedem neuen großen Ding dauerte es seine Zeit, bis sich die Erkenntnis durchsetzte, dass Haftbefehl stilprägend war, im Deutschrap und darüber hinaus. "Chabos wissen, wer der Babo ist" wurde 2012 zum Superhit, "Babo" das Jugendwort des Jahres und der Gangster-Rapper zum Star.
Haftbefehl brachte nicht nur die im Rap wichtige Währung der Authentizität mit, sondern auch das Talent, in seinen Texten zwischen brachialer Gewalt, den Lebensumständen junger Menschen mit Migrationsgeschichte und der eigenen Depression wechseln zu können, ohne Pathos und anscheinend intuitiv. Selbst das Feuilleton war ganz angetan und verzieh ihm wohlwollend den mitunter üblen Sexismus und so manche antisemitische Anspielung (Rothschild-Theorie).
In den letzten Jahren häuften sich jedoch Aufnahmen, die nun fast wie zynische Trailer der kürzlich erschienenen Dokumentation anmuten: Haftbefehl bekommt im Vollrausch keinen Ton mehr heraus, Haftbefehl torkelt durch die Gegend, Haftbefehl kracht mit seinem Audi in einen Darmstädter Backwarenladen und begeht mutmaßlich Fahrerflucht zu Fuß.
Erschütternde Einsichten
Im Film des Journalisten Juan Moreno und des bisherigen Werbefilmers Sinan Sevinc zeigt sich, dass das keine Auswüchse eines exzentrischen Rockstar-Lifestyles (mehr) sind, sondern der lebensbedrohliche Selbstzerstörungstrip eines Gebrochenen. Über zwei Jahre haben sie den Rapper begleitet und in dieser Zeit schläft er sehr viel, im Backstage und bei Autofahrten, sogar beim Friseur scheint er wegzunicken. Ein Körper, der alles gibt, um Erholung zu erzwingen.
Er schläft auch im Mercedes vor der Einfahrt seines Einfamilienhauses, ein weißverputzer Neubau bei Stuttgart. Mehr Bürgerlichkeit geht fast nicht. Dort lebt er mit seiner Frau und den beiden Kindern, wenn er denn da ist, weil er oft tagelang abtaucht und kokst. In bemerkenswerter Offenheit teilt Nina Anhan ihr zerrüttetes Beziehungsleben mit der Kamera, wenn sie zugibt, nicht mehr an ihren Mann heranzukommen. Eigentlich sei sie alleinerziehend, sagt sie den Tränen nahe, und: "Den Aykut liebe ich, den Haftbefehl nicht."
Weggefährten kommen zu Wort, Label-Leute und Haftbefehls Brüder. Sie alle machen sich Sorgen: Dass er Termine nicht einhält, Auftritte sausen lässt, dass er stirbt. In eineinhalb Stunden erhält man Einblick in die Zentrifugalkraft eines Süchtigen, der die Menschen um ihn herum mit in den Abgrund zieht. In einer Szene deutet Haftbefehl auf ein Foto von ihm und seinen Kindern. "Das ist mein Sohn Noah. Das ist mein Baby Aliyah. Und das ist der Dreck." Er meint sich selbst. Dann kommt ihm plötzlich ein Lied von Reinhard Mey in den Sinn, "In meinem Garten", und er fängt an zu singen.
Mit Überdosis im Krankenhaus
Haftbefehls Kollisionskurs gipfelt schließlich in einem Suizidversuch. Eine absichtlich herbeigeführte Überdosis Kokain, Gramm für Gramm in die Nasenlöcher, bis zum Zusammenbruch. In der Doku wird nacherzählt, wie der 39-Jährige im Krankenhaus reanimiert wird, irgendwann aufwacht und wütet, weil er noch lebt. "Dann bin ich raus und hab weitergemacht. Direkt weiter, zehn Gramm", sagt Haftbefehl.
Dass er überhaupt noch davon erzählen kann, zwar entstellt, aber lebendig, verdankt er wohl seinem jüngeren Bruder, der ihn zwangseingewiesen hat, in eine Klinik in der Türkei. Die Doku stellt das dar wie eine Rettung in letzter Not, als ein den Umständen entsprechend versöhnliches Ende. Nur: Sieht so ein Geretteter aus?
Er habe einen Film machen wollen, "der ehrlich ist und keine glatt polierte Künstlerdoku", sagte Produzent Elyas M'Barek im Rahmen der Premiere am Freitag. Es war ein Event mit hoher Promidichte. Auf dem roten Teppich grinste M'Barek in die Kamera, während Haftbefehl neben ihm sein Gesicht unter einer Sturmmaske versteckt hielt.
Nun kann man sich fragen, was diesen Film, der sofort auf dem ersten Platz der Netflix-Chats eingestiegen ist, denn "ehrlich" macht. Sind es die Momente, in denen der gutherzige Haftbefehl durchscheint, der seine Familie liebt und nur sich selbst nicht lieben kann? Oder ist es nicht eher die Schonungslosigkeit, das Draufhalten, der Schrecken? Denn wenn man mal ganz ehrlich ist, dann schaut man in "Babo - die Haftbefehl-Story" dem wohl größten deutschen Gangster-Rapper beim Sterben zu.
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