Michel Onfray, 1959 in der Normandie zur Welt gekommen, hat es aus einfachsten Verhältnissen kommend zu einem der prominentesten Philosophen Frankreichs gebracht. Er gilt als Laizist und Libertärer, in Deutschland hat er zuerst Mitte der Neunzigerjahre mit seinem Buch „Die genießerische Vernunft“ von sich reden gemacht. In seinem neuen Buch „Déambulation dans les ruines“ (Streifzug durch die Ruinen), dem ersten Band einer „Philosophischen Geschichte des Westens“ in vier Bänden, wendet sich Michel Onfray nun den Anfängen eines Europas zu, dessen Ende er mit Gewissheit kommen sieht.
WELT: Ihr „Streifzug durch die Ruinen“ ist eine faszinierende Einführung in die Weisheit der Menschen in der Antike und gleichzeitig der erste Band einer ehrgeizigen philosophischen Geschichte der westlichen Welt, die mindestens vier Bände umfassen soll. Warum haben Sie gerade jetzt ein derart monumentales Werk begonnen? Ist es Ihre Weise, auf diejenigen zu antworten, die den Westen verabscheuen, wie vor allem die „Woke“-Welt der Universitäten?
Michel Onfray: Eigentlich hatte ich geplant, meine Volkshochschule in meinem Heimatort Chambois im Department Orne neu aufzubauen. Und das war das philosophische Projekt, das ich dort unterrichten wollte. Dieses neue Konzept an der Volkshochschule von Chambois war das, was meine „Contre-histoire de la philosophie“ (Gegengeschichte der Philosophie, in zwölf Bänden) an der Volkshochschule von Caen war. Und genauso, wie die von Caen damals vom Bürgermeister sabotiert wurde, haben die Stadtväter von Chambois nun ihrerseits die Genehmigung verweigert.
Der Grund, warum ich mich jetzt in dieses Abenteuer gestürzt habe, ist tatsächlich, dass ich mich gegen diejenigen wehren will, die die christlichen Wurzeln Frankreichs und des Westens verleugnen und der Meinung sind, Frankreich habe erst mit der Republik begonnen! Ich erinnere daran, dass die Republik erst im Februar 1792 ausgerufen wurde und dass, wenn man diese Art und Weise zu rechnen und zu denken beibehalten will, die Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789, die Abschaffung der Privilegien in der Nacht vom 4. August 1789, die Erklärung der Menschenrechte am 27. August 1789, das Föderationsfest am 14. Juli 1791, die Billigung der Verfassung durch König Ludwig XVI. am 13. September 1791, die Gründung der Verfassungsgebenden Versammlung und anschließend der Legislative sowie die Abschaffung der Monarchie am 21. September 1792 nicht zur Geschichte Frankreichs gehören, diese also erst am 22. September 1792 beginnt. Der Westen, zu dem Frankreich ja gehört, hat griechisch-römische Wurzeln, was das Thema dieses Buches ist, sowie jüdisch-christliche, was in den folgenden Bänden dargelegt werden soll.
WELT: Ihnen liegen die römischen Denker mehr als die griechischen. Warum ist das so?
Onfray: Ich ziehe die Römer vor, weil sie eine sehr viel praktischere Weisheit anbieten, eine sehr konkrete Philosophie, die ganz bewusst das Gegengewicht zu den Wortspielereien der Griechen darstellt. Letztere leben in einer Welt der Ideen, die mit der realen wenig zu tun hat. Verzeihen Sie mir, wenn ich mich wieder selbst zitiere, aber ich habe 2019 ein Buch mit dem Titel „Sagesse“ (Weisheit) veröffentlicht, in dem ich aufzeige, dass die Römer Philosophie anhand von lehrreichen Geschichten unterrichteten und Sophistereien ablehnten, und nicht etwa, weil sie nicht in der Lage waren, das Konzept an sich zu begreifen.
Doch statt ewig langer metaphysischer Traktate über Macht, Mut, Integrität und Freundschaft, erzählten sie von Lebenserfahrungen, um den Leser auf diese Weise zu inspirieren. So zum Beispiel über den Bauernsoldaten Cincinnatus, der seinen Pflug stehen lässt, als ihn die Senatoren damit beauftragen, eine ganz bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Er tut dies, indem er seine Macht ausübt, kehrt jedoch wieder aufs Feld zu seinem Pflug zurück, sobald er die Aufgabe erledigt hat. Um das zu erklären, braucht man keine lange Abhandlung.
Dasselbe gilt für die Bildhauerei: Die Griechen stellten den idealen Körper dar, so wie er ist, wenn Knaben und Mädchen noch keine zwanzig Jahre alt sind und von den Folgen des Alterns noch nichts wissen, während die Römer die Gesichter ihrer Skulpturen mit Glatze, Falten, Warzen, Doppelkinn und ähnlichem formten. Und wenn man bedenkt, dass diese Skulpturen damals noch bemalt waren, so zeigten die Griechen nur einen idealisierten Körper, der nur in der Fantasie existierte, die Römer dagegen einen realen Körper. Wir werden noch daran sterben, dass wir die Ideen der Realität vorziehen.
WELT: In Ihrem Buch erklären Sie, dass diese beiden Denkschulen miteinander konkurrierten. War das ein fruchtbringender Streit? Könnte man sagen, dass dieser sogar die Grundlage für die Gründung der westlichen Welt war?
Onfray: Es gibt da tatsächlich eine Art Kampf der Ideen, bei dem die einen gewinnen, die anderen verlieren. Im Grunde besteht Geschichte aus der Geschichte dieser Sieger, der Besiegten, ihrer Kämpfe und der Mittel, die ihnen zum Sieg verholfen haben. Doch die Sieger von heute können morgen zu Verlierern werden und umgekehrt. Vor Konstantin waren die Christen Besiegte, in den Katakomben, durch Verfolgungen, als Märtyrer, doch nach ihm gehörten sie zu den Siegern. Doch wer kann behaupten, dass die Macht der Christen heute nicht sehr viel brüchiger geworden ist, da der Westen, der durch diese Macht erst ermöglicht wurde, zum erklärten Feind von Milliarden von Menschen auf diesem Planeten geworden ist?
WELT: Was können die Philosophen der Antike uns Modernen noch beibringen?
Onfray: Dass die Wurzeln unseres alltäglichen Handelns griechisch-römisch sind: Ob wir das Grillen beispielsweise hassen oder lieben, das hat seinen Ursprung in einem zweitausend Jahre alten Streit zwischen Schülern von Pythagoras und Diogenes! Zu heiraten, mit einem Partner zusammenzuleben, Kinder zu bekommen oder ein freies Leben zu führen, flirtend von Partner zu Partner zu wechseln – auch das ist ein Konflikt, den die Schüler von Platon mit denen von Aristippos von Kyrene untereinander austrugen – und so weiter. Der nächste Band, mit dem Titel „Construire une cathédrale“ (Eine Kathedrale bauen) untersucht die Art und Weise, wie die griechisch-römische und die jüdisch-christliche Zeit ineinander übergingen. In den darauffolgenden Bänden geht es dann um die nächsten Übergänge bis heute.
WELT: Was ist aus der antiken Zivilisation in unserer heutigen jüdisch-christlichen noch übriggeblieben?
Onfray: Ich werde mehre Bände brauchen, um das genau zu beschreiben, doch sagen wir einmal: Die Gegensätze von Körper und Seele, der Glaube an die Unsterblichkeit des Geistes und der daraus resultierende Glaube an die Nachwelt, die der hiesigen Welt einen Sinn verleiht. Eine Zivilisation der Schuld, mehr als eine Zivilisation der Scham, eine problematische Beziehung zum menschlichen Körper, eher eine Vorliebe für Ideen als für die Realität, eine Schwäche für den Millenarismus – einer Zukunft in einer friedlichen und glücklichen Welt! Die Freude an Bildern: Im 18. und 19. Jahrhundert gab es einen langen Disput zwischen Ikonoklasten, die Bilder verabscheuten, und Ikonophilen, die Bilder verteidigten und damit unsere ikonophile Zivilisation, mit Malerei, Fotos, Filmen und der Pixelkultur erst ermöglichten.
WELT: Man hätte auch annehmen können, dass der Autor der „Traité d’athéologie“ (Abhandlung über die Atheologie) eher die griechisch-römische Zivilisation der jüdisch-christlichen gegenüberstellt. Sie betonen jedoch stattdessen die Verbindungen zwischen beiden. Kann man die jüdisch-christliche Zivilisation als Fortsetzung der antiken Zivilisation sehen?
Onfray: Natürlich. Ich gehöre nicht zu denen, von Edward Gibbon bis Louis Rougier oder sogar Alain de Benoist von der Neuen Rechten, die das böse Christentum einem guten Heidentum gegenüberstellen und gleichzeitig eine Rückkehr zu polytheistischen Göttern fordern, um den Monotheismus zu bekämpfen. Genau wie beim Konstantinsbogen, der ja aus wiederverwendeten Teilen heidnischer Gebäude – darunter auch des Kolosseums – erbaut wurde, haben die Kirchenväter auch das Heidentum über mehr als ein halbes Jahrtausend hinweg buchstäblich geplündert, um daraus das Christentum zu erschaffen: Der platonische Idealismus, die Metaphysik von Aristoteles, der stoische Dolorismus, der plotinische Mystizismus, die epikureische Askese – sie alle haben Bausteine für das christliche Gebäude geliefert.
WELT: Sie glauben allerdings, dass unsere Zivilisation untergehen wird. Ist sie dabei, am Kampf der Kulturen zu scheitern, oder ist sie das Opfer ihrer eigenen Dekadenz?
Onfray: Es gibt keinen unsterblichen Menschen und genauso wenig eine unsterbliche Zivilisation. Ein alter Mann, der sterben wird und Kinder hatte, hat Vorfahren wie Nachfahren. Genau dasselbe gilt auch für eine Zivilisation. Heutzutage gibt es eine ganze Anzahl von Reaktionären, die sich als Scharlatane ausgeben und Zaubertränke verkaufen, die es angeblich einem Sterbenden ermöglichen, innerhalb von sechs Monaten einen Marathon zu laufen. An solche Scharlatane zu glauben, ist eines von vielen Merkmalen des Nihilismus.
WELT: Liegt es daran, dass wir unserem kulturellen Erbe den Rücken gekehrt haben, und zwar sowohl dem der Antike als auch dem Judentum-Christentum?
Onfray: Was auch immer man tut, eines Tages verlässt der Lebenselan unseren von ihm erschöpften Organismus, um sich einen anderen zu suchen. An diesem Punkt bin ich kein Bergsonianer mehr. Ich glaube nicht an einen Lebensimpuls, der zum Teil mit der Transzendenz verbunden ist. Ich sehe im Fadenwurm, einem parasitären Wurm, das extreme Modell meiner Morphologie: Der Parasit tötet den Körper, nachdem er sich eine gewisse Zeit von ihm ernährt hat, um sein eigenes Leben leben zu können. Diesem Fadenwurm habe ich in meinem Buch „Cosmos“ ein ganzes Kapitel gewidmet.
WELT: Sehen Sie zwischen dem derzeitigen wirtschaftlichen und politischen Chaos Parallelen zum Untergang des römischen Reichs?
Onfray: Ja, durchaus, weil das Lebensschema für alle Zivilisationen ein und dasselbe ist. Manche gehen zugrunde, der Sowjetismus hat siebzig Jahre gedauert, andere dagegen halten sehr lange. China hat dreitausend Jahre überstanden, andere fünf, Israel drei oder vier Jahrtausende, die Wikinger dagegen sind verschwunden. Die jüdisch-christliche Zivilisation hat zweitausend Jahre überdauert, was aller Ehren wert ist. Sie lebt mit und im nicht-europäischen Westen weiter. Die Vereinigten Staaten bereiten eine zivilisatorische Fortsetzung vor, die post-human und post-terrestrisch sein wird – doch auch die Chinesen und die Russen arbeiten daran.
WELT: Wenn das Ende unausweichlich ist, warum kämpfen Sie dann weiter und schreiben Bücher?
Onfray: Um aufrecht zu sterben.
Dieses Interview erschien in längerer Form zuerst in „Le Figaro“, wie WELT Mitglied der „Leading European Newspaper Alliance“ (LENA). Aus dem Französischen Bettina Schneider.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke