Eine Runde Bohème-Freunde sitzt abends beim Wein beisammen, im Mittelpunkt der als neuer Starbildhauer gehandelte Anatol Stiller. Er hat bei den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg gegen die Faschisten gekämpft und soll noch einmal die Story erzählen, als er, allein auf seinem Posten am Tejo, einen Trupp Faschisten ins Visier bekam.

Alle lauschen atemlos, auch Julika, eine gefeierte Balletttänzerin, die sich an diesem Abend in ihn verlieben wird. Mit stockender Stimme erzählt Stiller von seinem Versagen: Er habe nicht abdrücken können. Dennoch wird er als Held gefeiert, als jemand, der die Humanität über die Ideologie siegen ließ. Wir sind, was die anderen in uns sehen wollen. Oder werden es. Können wir diesem Bild jemals entkommen?

Als Max Frischs Roman „Stiller“ 1954 erschien, traf er den existenzialistischen Zeitgeist ins Mark, indem er radikal die Idee durchspielte, dass der Mensch sich selbst entwerfe, und zugleich das Scheitern eines solchen Begriffs von Freiheit vorführte. Dem Schweizer Frisch, damals schon über 40 und selbst an einem Kipppunkt seines Lebens, gelang es, seine persönliche Problematik zu einem paradigmatischen Konflikt moderner Individualität zu formen.

„Ich bin nicht Stiller!“, der erste Satz des Romans, wird geäußert von einem an der Schweizer Grenze erkannten und darauf festgesetzten Mann, der von sich behauptet, ein Amerikaner namens James Larkin White zu sein, dessen Pass er bei sich trägt. Aber keineswegs der sieben Jahre zuvor spurlos verschwundene Bildhauer, als den ihn alle wiederzuerkennen glauben.

„Wie soll man denn beweisen, dass man jemand nicht ist?“, ruft der des Identitätsschwindels Verdächtige verzweifelt im Gerichtssaal aus. Die Verfilmung von Stefan Haupt, die nun ins Kino kommt, kondensiert den Romanstoff zu einem Justiz- und Ehedrama. Das ist aus dramaturgischen Gründen nachvollziehbar, verschiebt aber den Fokus. Wo es bei Frisch um die Frage geht, warum Stiller sein Leben wegwarf und ein ganz anderer sein wollte (und wieso es ihm nicht gelang), fragt der Film naiv „Ist er es oder nicht?“ und erzeugt so eine oberflächliche Krimi-Spannung, die das Publikum fast erleichtert aufseufzen lässt, wenn White/Stiller sich schließlich durch eine beiläufige Geste verrät. 

In den Mittelpunkt rückt die Ehefrau Julika, die von Stiller verlassen wurde, als ihre Karriere durch eine Lungenkrankheit zerstört worden war und sie in einem Sanatorium mit dem Tode rang. Paula Beer spielt großartig die zutiefst verletzte Frau, in deren anfängliche zornige Gewissheit sich mehr und mehr der Zweifel frisst, bis sie sich in den seltsam fremden eigenen Mann erneut verliebt (und er in sie), was sie erst recht in die Verzweiflung treibt. „Aber ich weiß ja gar nicht, wer das ist, der mich da liebt.“

Fatal ist schon die Entscheidung der Filmemacher, ausgerechnet die Titelfigur auf zwei Schauspieler aufzuteilen. Sven Schelker spielt den glühenden, idealistischen und sensiblen Jungkünstler, während Albrecht Schuch dann in den Rückblenden vor Stillers Flucht die Rolle übernimmt, als die Ehe mit Julika in die Krise rutscht. Diese Vorgeschichte kommt als ziemlich banale Selbstzerstörung eines narzisstischen, saufenden, gewalttätigen Genies daher, der mit dem Erfolg seiner Frau nicht zurechtkommt und sich eine unkomplizierter erscheinende Geliebte nimmt. Schon diese beiden Stiller-Versionen sind schwer unter einen Charakterhut zu bekommen.

Schuch gibt dem Rückkehrer White dann neben einer zynischen Härte und Verlebtheit auch einen amerikanischen Akzent, der sich im Laufe seines Prozesses in Hochdeutsch verwandelt. Schweizerisch klingen im Film nicht mal die Polizeibeamten, obwohl die Engstirnigkeit Zürichs doch auch ein Grund für Stillers Flucht war. Dass vor allem gesellschaftliche Rollenerwartungen schuld gewesen sein sollen, wird nicht sichtbar. Vielleicht passt diese Lesart auch nicht mehr in die Gegenwart, in der sich alle ständig in sozialen Medien zu Kunstfiguren stilisieren. Dann bleibt aber nur eine simple, handelsübliche Selbstfindungsstory übrig: Der Mann musste halt mal etwas Neues anfangen.  

In Frischs „Stiller“ – und auch in seinem daran anknüpfenden Meisterwerk „Mein Name sei Gantenbein“ (1964) – wird das Erzählen von Geschichten zum Selbstvollzug des Ich: Das frühere Leben Stillers wird von White im Gefängnis verfasst, als Autobiografie eines vorgeblich Anderen. In der unerklärlichen Detailfülle verrät sich der Erzähler ständig selbst, weswegen sich die Frage gar nicht stellt, ob er nicht doch recht hat mit seinem hartnäckigen Leugnen. 

White wird im erinnernden Erzählen wieder zu dem Anatol Stiller, den er doch auslöschen wollte. Im Film hingegen erzählt er Julika (und dem Gefängniswärter) ein paar Abenteuerstorys, etwa über die Narbe an seinem Ohr, und irgendwann die Wahrheit. Im Roman liegt im Geständnis die Tragik, dass wir uns selbst nicht entfliehen können. Im Film ist es nur die fast glückliche Auflösung eines besonders schwierigen Falls.

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