Vielleicht ist keine andere Tote der Weltgeschichte so oft missbraucht worden wie Anne Frank. Das Elend begann mit einem Broadwaystück, das im Oktober 1955 seine Uraufführung erlebte. Zwei Jahre lief es dort, tourte danach durch die Vereinigten Staaten. Das Stück von Frances Goodrich und Albert Hackett hielt sich zwar im Wesentlichen an die Vorlage – das berühmte Tagebuch, das die 13-jährige Anne Frank in dem Hinterhaus in der Prinsengracht in Amsterdam geführt hatte, wo sie mit ihrer Familie im Versteck lebte –, aber es löschte einen Aspekt ihrer Persönlichkeit beinahe ganz aus: ihre Jüdischkeit. In dem Stück wurden die versöhnlichen Stellen von Anne Franks Tagebuch betont, vor allem ihr Bekenntnis, sie glaube trotz allem an das Gute im Menschen. Jene Passagen, in denen sie ihre Wut über die Deutschen und ihre Helfer zum Ausdruck brachte, fielen weg.

So wurde eine Anne Frank geschaffen, die von der Öffentlichkeit leicht verdaut werden konnte. Eine Anne Frank also, die für einen allgemeinmenschlichen Appell gegen das Böse an sich stand; ein universales Symbol, das von jeder historischen Besonderheit gereinigt worden war. Dass Anne Frank nur aus einem einzigen Grund ermordet wurde, nämlich weil sie Jüdin war, wurde darüber beinahe vergessen. Der logische Gipfel dieser Entwicklung wurde vor einigen Jahren erreicht, als an den Wänden von Amsterdam Graffiti auftauchten, die Anne Frank mit Palästinenserschal zeigten: Sie, die Jüdin, wurde nun zum Opfer der Juden erklärt, was naturgemäß bedeutete, dass es sich bei den Israelis um Nazis handelte.

Es geht noch widerwärtiger und dümmer auch. Vor drei Jahren wurde auf Twitter allen Ernstes darüber diskutiert, ob Anne Frank Privilegien gehabt habe, weil sie „weiß“ war. Verständlich wird diese Diskussion überhaupt nur, weil Juden – einem Jahrtausende alten Pariahvolk, das in Europa jahrhundertelang in Gettos gehalten wurde – nach der in den Vereinigten Staaten gebräuchlichen rassistischen Taxonomie als Weiße gelten.

Andrew Fox und Joel Sinensky haben sich von diesem idiotischen Twitterfeed zu einem komischen Musical inspirieren lassen. „Slam Frank“ heißt es und handelt von einer extrem progressiven Theatergruppe, die beschließt, den Völkermord an den Juden zu einem intersektional-multiethnisch-queer-antikapitalistisch-entkolonisierten Afro-Latino-Hip-Hop-Ereignis zu machen. Anne Frank verwandelt sich so in Anita Franco, die eine pansexuelle Latina ist.

Ihre Mutter ist eine militante Schwarze, ihr Vater „neurodivers“. Das Hauptproblem der Leute in dem Stück-innerhalb-des Stücks ist nicht, den Nazis zu entkommen, sondern ihre persönlichen Wehwehchen auszuleben. Das Stück spielt weitab vom Broadway in einem winzigen Theater, das sich auf Comedy spezialisiert hat. Und das New Yorker Theaterpublikum? Es liebt dieses Musical, das in den sozialen Medien mit Sprüchen beworben wird, in denen nicht erkennbar wird, dass es sich hier um Satire handelt. Soeben wurde die Spielzeit noch einmal bis in den November hinein verlängert.

Es handelt sich bei „Slam Frank“ um linke Selbstkritik: Veräppelt werden hier nicht die Juden, sondern die Woken. Trotzdem wurde in einer jüdischen Zeitung gewarnt, diese Satire gehe zu weit. Außerdem kursiert eine Online-Petition, in der gefordert wird, das Musical aus Respekt vor den Opfern des nationalsozialistischen Genozids abzusetzen. Und tatsächlich stellt sich folgende Frage: Wäre ein solches Hip-Hop-Musical auch dann ein Hit, wenn Weiße in Blackface auftreten und das Leben auf einer Plantage in den Südstaaten als buntes Tanzvergnügen darstellen würden, um sich über den Rassismus der amerikanischen Rechten lustig zu machen? Oder wäre der Spaß in diesem Fall schlagartig vorbei?

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