Memento mori. Bedenke, dass du sterben wirst. Das stoische Grundprinzip wurde nach dem Tod von Andrew Fletcher im Mai 2022 zum Leitmotiv für die übrig gebliebenen zwei Gründungsmitglieder, Dave Gahan und Martin L. Gore, um Depeche Mode eine neue Legitimation zu geben. Das ein Jahr später erschienene Album „Memento Mori“ schrammte mit der Eleganz eines Raumkreuzers, der etwas zu schwungvoll vom Mutterschiff abdockt, knapp am Kitsch vorbei und versammelte zwölf Songs, die inhaltlich als Meditationen über die brutale Gewissheit des uns alle, auch die Popstars, eines Tages ereilenden Todes gelesen werden können.

An drei aufeinander folgenden Abenden ihrer gleichnamigen Welttournee spielten Depeche Mode im riesigen Foro Sol Stadion in Mexico City – der Kapitale eines Landes, in dem die Band, ähnlich wie in Deutschland, auf eine in Jahrzehnten gewachsene, ihr quasi religiös ergebene Gefolgschaft blickt. Depeche Mode beauftragten den mexikanischen Regisseur Fernando Frías, einen Konzertfilm aus mexikanischer Perspektive zu drehen.

Das Ergebnis, schlicht „M“ betitelt – wie „Mexico“, „Morte“ (Tod) oder eben „Memento Mori“ –, ist nun ein 100-minütiger Konzertfilm, der, ähnlich wie „The Last Waltz“ von Martin Scorsese über das Abschiedskonzert von The Band in San Francisco aus dem Jahr 1978, alle paar Songs unterbrochen ist von kurzen, narrativen Einspielern – filmische Aphorismen über den Tod, die Ewigkeit, die Wiedergeburt und den alles miteinander verbindenden Tanz. Für deutschsprachige Ohren sind die in mexikanisch eingesprochenen, untertitelten Sequenzen eine Freude. Sie betten die live aufgezeichneten Songs ein in Bilder von Ekstase und Einkehr, verzerrt und immer wieder die Ästhetik des Musikvideos als TV-Event der 1980er-Jahre zitierend: Auch Fernseher und TV-Formate haben eine Lebenszeit, bevor sie auf dem Schutthaufen der Geschichte verschwinden.

Vor allem aber ist „M“ ein monumentaler Konzertfilm, der die gigantische Kulisse von 60.000 Fans unter freiem Himmel dankbar in immer wieder derart beeindruckenden Drohnenfahrten nur knapp über die Köpfe der Menschenmassen und zehntausende von leuchtenden Handys hinweg abfliegt, dass man bald ahnt, dass „M“ vielleicht auch deshalb in Mexiko gedreht wurde, weil es hier weniger rigide Sicherheitsvorschriften bei Massenveranstaltungen gibt.

Aber es sind nicht nur solche totalitären Überwältigungsmomente, die „M“ zu einem sehenswerten Film machen. Durch eine perfide, aber äußerst wirkungsvolle Manipulation der Tonspur erschafft Frías den artifiziellen Eindruck zweier Räume im Film: Zum einen gibt es die Bühne selbst. Im rechteckigen Schutzraum dieser Bühne ist das Publikum ausgeblendete Kulisse, das Raunen, Klatschen und Ekstase sind stummgeschaltet, als Zuschauer hört man das Konzert wie eine Studioaufnahme.

Immer wenn sich einer der beiden Sänger aber dem Bühnenrand nähert oder über den Catwalk bis in die Mitte des Stadions bewegt, hören wir das Publikum als hyperpräsentes, Emotionen verstärkendes Geräuschelement. Dieses Hin und Her zwischen den beiden Klangräumen ist ein mächtiges Werkzeug der Illusion, das „M“ in seiner Künstlichkeit von anderen Konzertfilmen im Kern unterscheidet.

Im Klangraum der Bühne und ohne Publikumsgeräusche führt dieser Kunstgriff dazu, dass der halb elektronischen, halb analogen Live-Musik von Depeche Mode die größte Reverenz erwiesen wird: Sie wird zwar vom Korsett der Videos, der Lichtshow und des Click-Tracks in den In-Ear-Kopfhörern der Musiker zusammengehalten, dafür nutzen die beiden Sänger den sich ihnen bietenden Raum für starke und emotionale Gesangs-Performances – was sich insbesondere in neuen Songs wie „Perfect Stranger“, „Speak to Me“ oder „Soul With Me“, aber auch in elegisch-melancholischen Versionen von „A Pain That I’m Used To“, „World in My Eyes“oder „Condemnation“ ausdrückt.

Dass dieses an Fellini erinnernde Spiel mit der Illusion und dem fehlenden Klang des Publikums mitunter irritierend ist, weil Bild und Ton in Dissonanz zueinander stehen, wird indes wettgemacht durch die schonungslosen Gesichterstudien der Bandmitglieder, eingefangen von einer meisterhaften Steadycam: Das gelebte, exzessive Leben, und, im Falle von Dave Gahan, gar der erlebte Zweiminutentod 1996 nach einem drogeninduzierten Herzinfarkt, sind eingeschrieben in die müde Mimik der zwei Hauptdarsteller. Immer wieder gehen ihre Blicke in das Nichts des Sternenhimmels, der, so suggerieren diese Blicke, vielleicht eine (und möglicherweise allzu naheliegende) Metapher für die Ewigkeit sein könnte.

Die Frage nach dem Tod, der uns alle gewiss ereilen wird und deshalb zu Lebzeiten bedacht werden möge, hat Gilgamesch, den Frías im Film zitiert, übrigens sehr schlüssig beantwortet: Unsterblich wird nicht derjenige, der ewig lebt, sondern derjenige, der zu Lebzeiten etwas Bleibendes hinterlässt. So bleibt zum Schluss nur die Frage, ob „M“ als reine, totale Konzertaufnahme nicht vielleicht einen tieferen, bleibenderen Eindruck hinterlassen hätte, wenn der Film ohne jede Art von deepen Kalendersprüchen ausgekommen wäre.

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