Impressionisten gehen ja immer. Wenn einem gar nichts mehr einfällt, dann kommt die Combo Manet-Monet-Degas ins Spiel. So mag mancher achselzuckend denken, wenn er jetzt das Plakat sieht, mit dem die Alte Nationalgalerie in Berlin ihre neue Ausstellung bewirbt. Es zeigt einen Ausschnitt aus der „Flusslandschaft mit Badenden“ von Auguste Renoir aus dem Jahr 1885.
Im aufgelösten Lichtgeflimmer eines zeitlosen Arkadiens hat jener französische Impressionist, der noch mit einem Bein im 18. Jahrhundert stand, hier seine angedeuteten Akte zwischen zierliche Büsche und Bäume platziert. Das Bild ruft die Sonnenseiten des Lebens mit jener seligen Sehnsucht herauf, wie nur diese Malerei der frühen Moderne das vermochte.
Ja, heute gehen die Impressionisten immer. Aber es gab eine Zeit, zumal in Deutschland, da gingen sie gar nicht. Da war es eine Ansage, wenn man sie öffentlich ausstellte, gar sammelte. Da rief das die Gralshüter des Akademismus auf den Plan, die den „Schmieranten“ umso distanzierter gegenüberstanden, als sie sich anschickten, von jenseits des Rheins die treuherzige Kunst der guten Deutschen zu verderben. Der Farbrausch auf den Arbeiten von Leuten wie Renoir galt ihnen als trojanisches Pferd, mit dem der Erbfeind sein zersetzendes Gift nun auch dem gesunden Volkskörper der eigenen Leute zu injizieren drohte.
Der Kaiser wetterte gegen die „Rinnsteinkunst“
Und war das Gift nicht schon in die heiligsten Hallen gedrungen? Hugo von Tschudi, Tempelhüter einer der deutschen Kunst geweihten Nationalgalerie, hatte doch tatsächlich um 1900 begonnen, den welschen Tand auf den Areopag der Berliner Museumsinsel zu holen! Schon taten es ihm in der Provinz seine Adepten nach. Etwa Harry Graf Kessler, der als Leiter der dortigen Kunstsammlungen einen Franzosen nach dem anderen nach Weimar einlud, sogar anrüchige Schriftsteller wie den perversen André Gide.
Na, der Großherzog blies ihm schön den Marsch und feuerte den Mann. Thüringen hielt stand! Aber in der Hauptstadt des Deutschen Reiches wurde die Lage immer bedenklicher. Obwohl Seine Majestät der Kaiser höchstselbst gegen die „Rinnsteinkunst“ wetterte, die sich in seiner Residenz breitzumachen begann, blieb es dabei: Der Siegeszug der Vaterlandsverräter schien unaufhaltsam.
Zu diesen Herrschaften, die wir heute als Pioniere einer fortschrittlichen, die engen Grenzen von Nationalismus und Abschottung übersteigenden Kunstauffassung wahrnehmen, gehörte auch der Sammler Otto Gerstenberg (1848 bis 1935). Er war der erfolgreiche Gründer der Viktoria-Versicherungen, ein Unternehmer mit kulturellen Ambitionen.
Und er kaufte parallel zu Tschudi auf dem Pariser Kunstmarkt die neue heiße Ware beziehungsweise ließ es seine Agenten tun. Beispielsweise besaß er schon vor dem Ersten Weltkrieg nicht nur in Deutschland, sondern weltweit die größte, nämlich fast vollzählige Sammlung des druckgrafischen Werks von Henri de Toulouse-Lautrec, der 1901 mit nur 37 Jahren gestorben war.
Es ist der größte Bestand der Arbeiten jenes Mannes geblieben, der wie kein anderer Künstler des 19. Jahrhunderts die hedonistischen Randbezirke der Gesellschaft salon- und bildfähig gemacht hat: jene Clowns, Tänzerinnen und Diseusen, Prostituierte, Bänkelsänger und Gigolos, jene Abtrünnigen bürgerlicher Respektabilität und Heteronormativität, zu denen sich der Abkömmling eines der ältesten Adelsgeschlechter Frankreichs selbst zählte.
Und dieser Bestand ging nicht nur nach Deutschland. Er blieb auch noch bis zum heutigen Tag im Besitz derselben Familie dort! In vierter Generation hüten den Schatz nun die Urenkel. Gegenwärtig stehen der Sammlung Scharf-Gerstenberg René Scharf und seine Frau Christiane vor. Und sie ermöglichten, dass die Alte Nationalgalerie mit 148 ausgestellten Arbeiten dieser Sammlung nun aus dem Vollen schöpfen kann.
Zum Konzept der Scharf-Gerstenbergs gehörte von früh auf das Prinzip, den Kernbestand zu kontextualisieren. Sie zogen die Linie der innovativen, aufmüpfigen französischen Kunst des 19. Jahrhunderts einesteils in die Vergangenheit und andernteils zur Gegenwart hin aus. Schon der Ahnherr Otto sah sehr richtig die Impressionisten aus der gesellschaftskritischen Ecke kommen, angestoßen von Künstlern wie Honoré Daumier, Eugène Delacroix, Gustave Courbet, die alle bereits auf ihre je eigene Weise dem Establishment den Kampf angesagt hatten.
Eine groteske Galerie von 19 Bronzeköpfen französischer Politiker aus der Zeit der frühkapitalistischen Julimonarchie gehörte bereits ebenso zum frühen Sammelbestand Gerstenbergs wie die Arbeiten des Revoluzzers Gustave Courbet. Der ließ unter der Herrschaft der Kommune 1871 als Fanal gegen Willkürherrschaft die große, vom Standbild Napoleons gekrönte Säule auf der Place Vendôme einreißen, wofür ihn die Gegenrevolution ins Gefängnis warf.
Eines der berühmten, in düsteren Tönen gehaltenen Stillleben, die im Gefängnis Sainte Pélagie von Paris entstanden, hängt jetzt in der Alten Nationalgalerie neben Courbets Porträt des Philosophen Trapadoux, der in einem kerkerähnlichen Gemach, dem Atelier des Malers, sitzt und missmutig in einem Album blättert. Das Ölgemälde stammt von 1849, ebenfalls eine nachrevolutionäre Zeit, deren allgemeine Verfinsterung Courbet hier seismografisch in die entsprechende Farblichkeit kleidet.
Auch in der postimpressionistischen Zeit geht die Sammlung den Weg der subversiven Innovationen weiter. Sie spiegelt den Kubismus der in Paris tätigen Maler wie Pablo Picasso und Georges Braque, Fernand Léger oder Juan Gris. Sie wendet sich den Koloristen unter den Abstrakten zu, wobei hauptsächlich Maurice Estève zu Ehren kommt.
Dann, seit 1945, öffnet sich der Fokus und spürt auch international parallelen Entwicklungen nach, wie sie von den Amerikanern Sam Francis oder Jasper Jones verkörpert werden, bis hin zu Deutschen der Gegenwart, heißen sie nun Katharina Grosse oder Anselm Reyle. Und siehe da: In seinem Gemälde „We’ll Never Stop Living This Way“ bekennt sich der 1962 geborene Daniel Richter ganz ausdrücklich sowohl in der Farbgebung als auch in der Motivwahl zu einem der großen Franzosen aus dem Kernbestand Gerstenbergs: zu Pierre Bonnard.
Bonnard ist oft missverstanden worden als ein Mann, der in seiner flächigeren Diktion den heiteren Ansatz von Impressionisten der ersten Generation fortgeführt habe. Doch schon das Großformat, betitelt „Die große Badewanne“, auf das als erstes der Blick der Ausstellungsbesucher fällt, macht deutlich: Der 1867 geborene Postimpressionist war kein Maler des Glücks. Das Biopic „Die Bonnards“ von Martin Provost, das diesen Sommer bei uns in die Kinos kam, zeichnet eindrucksvoll nach, dass die Idylle von Le Cannet oberhalb von Cannes, die Pierre mit seiner Frau Marthe bewohnte, keineswegs jenes Paradies darstellte, als das er es in vielen seiner Bilder umschuf.
Und nun also dies: Eine Frau liegt in der Badewanne, und natürlich handelt es sich um Marthe. Oder sollte man besser sagen: Es handelte sich einst um sie? Ist dies vielleicht eher ihre Leiche? Wie eingelegt in eine trübe Lake wirkt jedenfalls der gesichtslose, feingliedrige Körper, gefangen in sich selbst und seiner sinistren Aura. Selten ist die depressive Störung eines Menschen so beklemmend dargestellt worden wie in diesem merkwürdigen Porträt, das Bonnard von seinem Lebensmenschen malte, der sich in der Badewanne die Pulsadern öffnete.
Einmal auf die entsprechende Spur gebracht, sieht man auch die Interieurs und Stillleben Bonnards mit anderen Augen. Etwa jenes, das die Kuratoren dieser Schau jetzt ausgesucht haben: „Stillleben mit Katze“ ist es überschrieben. Natürlich sind die Farben wieder leuchtend hell. Aber irgendetwas stimmt nicht. Wie zusammengekauert schmiegen sich die dargestellten Gegenstände aneinander. Und der Vordergrund, eine weite weiße Fläche, ist ganz leer. Wie vereist, verwaist wirkt alles, als wäre es das Leben selbst, das sich aus der dekorativen Kulisse zurückgezogen hat.
Sammlung Scharf: subtil und subversiv
Derartige Entdeckungen hält diese Ausstellung vielfach bereit. Ein kleiner Gruß an Berlin ist auch versteckt: in einem riesigen Plakat von Henri de Toulouse-Lautrec. Es bewirbt den hübsch anzüglich „Babylon Deutschland“ betitelten Roman eines gewissen Victor Joze und zeigt einen Berliner Polizisten mit Pickelhaube, der einem blonden Offizier zu Pferde schmachtend nachblickt.
Militarismus und jenes „vice allemand“ (deutsches Laster), mit dem man seinerzeit in Frankreich Homosexualität umschrieb, dergleichen gefiel dem grafischen Dokumentaristen des Lotterlebens vom Montmartre, der auch ein Lesbenpaar der Halbwelt, das sich in einer Theaterloge liebevoll anschaut, so pompös inszenierte, als handle es sich um eine Königinnenmutter, die wohlgefällig auf die Erbprinzessin blickt.
Ja, Impressionisten und Postimpressionisten gehen immer. Aber sie boten stets bei näherem Hinschauen mehr als nur „la vie en rose“. Wer sich für das Subtile und Subversive in der französischen Kunst des 19. Und 20. Jahrhundert interessiert, der wird nirgends so fündig werden wie in der Sammlung Scharf-Gerstenberg. Bislang kannte man sie in Berlin hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Surrealismus, ein weiterer Schwerpunkt, der sein eigenes Gebäude gegenüber vom Schloss Charlottenburg besitzt.
Jetzt öffnet sich in der Alten Nationalgalerie der Vorhang vor einem noch komplexeren Spektakel: dem Welttheater Frankreichs und seiner Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. „Douce France“ und seine bittere Kehrseite – so viel davon war in Berlin lange nicht.
„The Scharf Collection. Goya – Monet – Cézanne – Bonnard – Grosse“, bis 15. Februar 2026, Alte Nationalgalerie, Berlin
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