Es ist, als hätte Haftbefehl in seinen Texten das eigene Leben prophezeit. Alkohol und Drogen bis die Birne platzt, die Sorgen vergessen sind. Jetzt ist sein Körper geschunden. Aufgedunsen stöhnt er, der bürgerlich Aykut Anhan heißt, ein „ach ja“ in den Raum, als er in den grauen Sessel fällt. Eigentlich ist das Stöhnen eher ein Röcheln.
So geht die Dokumentation „Babo – Die Haftbefehl-Story“ los, mit einem schwer angeschlagenen Haftbefehl, der von seinen Drogeneskapaden schon ein schiefes Lachen hat. Das Kinn passt nicht mehr zu den Wangen, das gequälte Grinsen nicht zum Sturm im Inneren. „Du fragst schon wie mein Therapeut“, wehrt Haftbefehl die „Wie geht’s dir“-Frage des Regisseurs ab. Als sei das eine komische Frage. Dabei ist sie die einzig naheliegende, wobei sie sich bei seinem Anblick eigentlich erübrigt. Die Frage hat jedoch – da hat Haftbefehl schon recht – den Ton eines Erziehungsberechtigten, der nicht schon am Anfang des Gesprächs eine Anklage ans Kind formulieren will, sondern erst einmal offen fragt: Was ist los, Aykut?
Viel ist da los – das wird in den knapp 90 Minuten überdeutlich. Ein Jahr zuvor saß er noch einigermaßen sortiert auf demselben Sessel vor der Kamera, beseelt vom Wunsch, „seine Geschichte zu erzählen“. Als Kind war Aykut ein süßer Junge, kein Engelsgesicht, aber fröhlich mit Vokuhila durch die Küche albernd. Seine zwei Brüder Aytac und Cem neben ihm. Dabei war es alles andere als einfach. Offenbach in den 90ern, Mainberg, finstere Plattenbausiedlung. „Offenbach ist anders, Bro. Unsere Jugend war kaputt. Alle haben gekifft. Schule war scheiße“, sagt er im Rückblick.
Jeder normale Alltagssatz von ihm klingt schon wie Rap. Aykut, der Straßenjunge, zieht morgens um die Blocks, schwänzt die Schule, vertickt Drogen. „Keiner hat uns einen anderen Weg gezeigt“, klagen die Brüder Aykut und Capo, die in der Doku häufige O-Ton-Geber sind. Eine Nase für zehn Mark, bisschen Taschengeld verdienen. Es ist das Geld, mit dem Haftbefehl Zugang zu seinem größten Talent finden wird, so will es die Legende. Denn Bruder Aytac kauft vom Drogengeld Hip-Hop-CDs. Aykut belämmert seinen großen Bruder, die CDs immer und immer wieder abzuspielen. Er ist hooked und schreibt in der beengten Wohnung seine ersten Texte, wirft sie weg, schreibt neue, bessere.
Was dann passiert, ist schwindelerregend und die wohl größte Sensation, die Deutschrap je hervorgebracht hat. „Mach mal ein bisschen lauter“: Haftbefehl hat zu diesem Zeitpunkt, Anfang der Nullerjahre, längst seinen Sound gefunden, aber der Flow sitzt noch nicht richtig, als er im Jugendzentrum Offenbach seine Reime am übersteuerten Mikrofon spittet. Aber er „hat Zug“, bemerkt auch der Sozialarbeiter.
„Deutscher Rap ist ne Bitch, und Haft ist der Zuhälter.“ Mit seinem Song „Hungrig & Stur“ (2010) fährt der Hype-Zug langsam los. Rapkollege Manuellsen ahnt: „Es wird ein Kurde kommen, ein Zwei-Meter-Typ. Der wird alles wegrasieren.“ Jeder andere Rapper wirkte auf einmal steif und spießig neben Haftbefehl. Seine Betonung, Wörter, der Gestus – alles Straße, dreckig, ohne Blatt vor dem Mund. Mit Einflüssen aus dem Arabischen und Französischen entwirft Haftbefehl sein eigenes „Ghetto-Esperanto“, wie es der Rapper Marteria nennt. Und auch Jan Delay ist begeistert vom Talent Haftbefehls. „Auf einmal reimte sich bei ihm Lampe auf Kühlschrank. Wie hat er das denn geschafft?“
Mit seinem Zischen und diesem Krachen in der Stimme robbt sich Haftbefehl immer weiter vor zu seinem größten Song. „Chabos wissen, wer der Babo ist“ wirbelt Deutschland durcheinander. Selbst bürgerliche Feuilletons müssen sich auf einmal mit Straßenrap konfrontieren.
Das führt zu absurden Szenen. Klassisch gebildete Autoren fahren nach Offenbach, um mit Haftbefehl über Lyrik zu sprechen. Man übertreibt nicht, wenn man sagt: Es ist Haftbefehls Verdienst, dass das postmigrantische Deutschland in seinen Träumen und Hindernissen auch einmal in den Kulturteilen abgebildet wurde. Kompromisslos ist Haftbefehl – bei seiner Musik und gegen sich selbst, aber auch irre ignorant. Die Dokumentation der Regisseure Juan Moreno und Sinan Sevinç tut gut daran, das ungeschönt darzustellen.
Die Leidtragende dieses Wahnsinns ist Haftbefehls Frau Nina. Sie ist es, die den Laden zu Hause zusammenhält, während ihr Mann abends wieder koksen geht. Sie ist es, die ihn danach stützend ins Haus tragen muss und alleine die Kinder schulfertig macht, weil Aykut verklatscht auf dem Sofa liegt. „Manchmal denke ich: Warum habe ich nicht einen normalen Mann?“, klagt sie im heimischen Wohnzimmer.
Haftbefehl leidet auch. Sehr sogar. Das hat er wohl von seinem Vater, einem depressiven, spielsüchtigen Alkoholiker. Blind für Zärtlichkeit sei er gewesen, schildern die Söhne unisono: hochaggressiv, aber mit einer schillernden Aura. Einmal kann der kleine Aykut ihn in letzter Sekunde vom Suizid abhalten, indem er die Handtuchschlinge von seinem Hals reißt. Was er dafür vom Vater erntet? Ein dreckiges, gehässiges Grinsen. „Willst du deinen Vater erretten? HAHAHA.“ Das zweite Mal schafft es Aykut nicht. Der Vater ist tot.
Solche Seltsamkeiten kann nur die Psyche produzieren: Obwohl Aykut unter der Abwesenheit und Kälte seines Vaters offensichtlich gelitten hat, kann er nicht anders, als so zu werden wie er. „Ich bin Haft. Ich bin Aykut. Ich bin Sohn von Jelal.“ Wieder diese Rap-Sätze. Hier verklärt Haftbefehl den Vater auf fast rührende Weise und führt dessen Todessehnsucht im eigenen Leben wieder auf. Jelals Sohn kokst sich fast tot. Herzstillstand. Und er wehrt sich gegen die Einsicht, dass das weiße Pulver alles zerstört. „Ich nehme Koks, seit ich 13 Jahre alt bin. Menschen tun mir schlechter als Koks“, schreit Haftbefehl. Es bleibt sein größter Kampf. Dass er ihn gewinnt, ist ihm und seiner Familie zu wünschen.
„Babo – die Haftbefehl-Story“ läuft ab 28. Oktober bei Netflix
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