Kommissare werden im Sonntagabendkrimi, meist wenn’s den zuständigen Redaktionen zu langweilig oder der Druck der jeweiligen Bundesländer auf Erweiterung der landschaftlichen Spielzone und eine größere Repräsentanz der Provinz gegenüber Metropolen wie Köln und Ludwigshafen zu groß wird, ganz gern mal aufs Land geschickt. Das führt zu wunderbaren Bildern – Hügel, Wälder, Flüsse.
Seinen Zweck als Maßnahme zur Förderung des innerdeutschen Tourismus erfüllen die Drohnenflüge über die Vulkaneifel, das Bergische oder das Alte Land allerdings nur bedingt. Weil bei der Kommissarlandverschickung meistens einiges gleichzeitig geschieht, was Menschen durchaus davon abhalten könnte, es den Ermittlern freiwillig gleichzutun.
Die Provinzgesellschaft erweist sich meistens als verstockt und rückständig. Zieht sich hinter eine Mauer aus Schweigen zurück, selbst wenn sich die Landleute hinter der Mauer untereinander spinnefeind sind. Der Ermittler ist immer der Fremde, der stört, gegen den es einig zu werden gilt. Das Wetter ist gehtso. Was wiederum zur allmählich erodierenden wirtschaftlichen und menschlichen Gesamtsituation passt. Und zum Zustand der Leichen, um deren Zutodekommen sich alles dreht. Leichen landen im Häcksler. Werden Opfer von agrarischem Gerät, von dessen Sinn und Zweck und Funktionsweise kein Ermittler und kein Sonntagabendkrimizuschauer vorher eine Ahnung hatte.
Womit wir uns jetzt nach Jork aufmachen müssen – das liegt im Landkreis Stade kurz vor Hamburg und gilt als der schönste Ort im Alten Land, einem der größten Obstanbaugebiete Europas. Und zu Charlotte Lindholm. Die hat nach einer Strafversetzung, an deren Auslöser sich niemand mehr erinnert, jahrelang in Göttingen Dienst tun müssen. Was landschaftlich schön ist, aber zu groß ist für eine Provinzkrimigeschichte. Außerdem war die schlanke Blondine zu lange da. Kommissare auf Landverschickung sind schnelle Eingreiftruppen.
In bester Miss-Marple-Tradition
Nun ist Charlotte wieder in Hannover beim LKA. Und mutiert zurück zu jener Kommissarin, die sie mal war. Eine Miss Marple von Niedersachsen. Eigensinnig, einzelgängerisch, ausgestattet mit kriminellem Gespür, ausgeprägter Erfahrung mit menschlichen Untiefen und der vielleicht dicksten Teflonschicht gegen anfliegende Widerstände unter allen Ermittlern des Sonntagabendkrimis.
Weil sonst nichts anliegt, die andern mit einer Kindesentführung beschäftigt sind und bevor sie sich anfängt zu langweilen, erfindet sie sich – man kann es nicht anders nennen – in bester Marple-Tradition einen Fall selbst, an den außer ihr eigentlich keiner glaubt. In Jork, das so nicht heißt in „Letzte Ernte“, ist ein rumänischer Aushilfsbauer zu Tode gekommen auf dem Hof der Feldhusens (nicht verwandt oder verschwägert mit dem „Stromberg“-Erfinder Arne Feldhusen aus Rendsburg).
Ein traktorbetriebenes spezielles Apfelwerkzeug hat ihn dekapitiert. Kann schon mal vorkommen. Landmaschinen sind gefährlich. Komisch ist allerdings, dass Viktors Kopf verschwunden ist.
Charlotte macht sich also auf den Weg nach Jork. Und es ist alles wie aus dem Musterbuch für Kommissarlandverschickungen. Es prallt ein bisschen viel von dem aufeinander, woran die deutsche Agrarwirtschaft krankt und was die deutsche Bauernschaft krank macht. Der Dorfpolizist ist ein bisschen doof und verstrickt im Klüngel. Traditionelle und ökologische Landwirte sind sich spinnefeind, schwärzen sich an. Die einen nehmen die andern aus. Weiße Kreuze sind an gefühlt jedes zweite Tor gesprüht, was auf einen aufgelassenen Hof hindeutet. Fremdarbeiter ziehen von Betrieb zu Betrieb. Brüssel ist ein Feindbild.
Und die Feldhusens sind ein einziges Krisengebiet. Der Altbauer sitzt verstummt im Rollstuhl, ein Mahnmal der sterbenden deutschen Landwirtschaft. Glyphosat hat ihn am Lymphdrüsenkrebs erkranken lassen, was aber kein Gericht als Pestizidverwendungsfolge anerkennt. Der Jungbauer leidet unter Depressionen, weil er sich sein Leben durchaus anders vorgestellt hat. Worin ihm seine Frau ähnelt, die eigentlich Physiotherapeutin ist, jetzt aber die Haltung von Apfelbäumen korrigieren muss.
Den Laden hält Feldhusen-Mutter Marlies zusammen, eine geradezu übermenschlich große, kleine, wehrhafte, undurchsichtige Frau. Lina Mendler ist, was Sonntagabendkrimikommissardarsteller brauchen, wenn sie landverschickt wurden – als Marlies einer jener Figuren, an der sie sich reiben, an der sie wachsen, groß werden können.
Charlotte mietet sich – gegen den Willen von Marlies – im Pensionszimmer der Feldhusens ein. Und folgt dann unbeirrt und kühl, wie sie so ist, den Spuren, die Johannes Naber, der mehrfache deutsche Filmpreisträger, der mit Benedikt Röskau und Stefan Dähnert das Buch schrieb und mit „Letzte Ernte“ sein spätes „Tatort“-Regie-Debüt gibt, sorgfältig ausgelegt hat.
Am Ende ein Stuhlkreis der Verdächtigen
Und am Ende tut sie etwas, was seit dem Ende von Hercule Poirot und Jane Marple im Fernsehen eigentlich nur noch der jeweils auf die Karibikinsel Sainte-Marie verschickte erzbritische Ermittler (gegenwärtig Don Gilet als DI Mervin Wilson) tut. Und manchmal Inspector Barnaby. Sie ruft alle Verdächtigen zusammen. Sie sitzen wie im Kindergartenstuhlkreis herum in der Scheune. Und dann rekonstruiert Charlotte in perfekt montierten Rückblenden, was tatsächlich geschah.
Das ist so wahnsinnig wie herrlich altmodisch. Und weil das alles so schön aussieht, möchte man da schon noch hinfahren. Die Apfelernte läuft noch. Und der Landkreis Stade ist statistisch (ein Mord in 2024, Aufklärungsrate 100 Prozent) in der wahren Wirklichkeit doch friedlicher als im Sonntagabendkrimi. Aber das sind ja alle Landkreise. Und alle Städte, klein, mittel oder groß.
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