Das neue angesichts seines Umfangs von mehr als 700 Seiten von ihm ironisch „Opus Magnum“ genannte Buch von Götz Aly heißt „Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1945“. Im Wiener Jüdischen Museum machte Aly zu Beginn deutlich, dass die titelgebende Frage nicht raunend-moralisch, sondern empirisch, als Frage nach den infrastrukturellen, sozioökonomischen und mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus zu verstehen sei. Wie mussten sich die Institutionen des bürgerlichen Rechts, der Kirchen, der Fürsorge, der kommunalen Verwaltung, der Gewerkschaften, aber auch private und halböffentliche Formen von Nachbarschaftshilfe, Familie, Ehe und Freundschaft verändert haben, damit sich der „kollektive Bestialismus“ entfesseln konnte, als den Aly mit den Worten Thomas Manns den Nationalsozialismus beschrieb?

Alys Buchvorstellung im Rahmen der vom Simon-Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien veranstalteten „Lectures“, versammelte wie in einem Prisma, was seine Arbeiten – vom 1984 mit Karl Heinz Roth veröffentlichten Buch „Die restlose Erfassung“ über Volkszählungen im Nationalsozialismus über „Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus“ (2005) bis zur 2015 erschienenen Studie „Volk ohne Mitte“ – stets als anstößig erscheinen ließ.

Der in Deutschland mittlerweile zur Staatsräson avancierte linke Antifaschismus, der den Nationalsozialismus trotz dessen Selbstbezeichnung als extremen Nationalismus und daher als „rechts“ rubriziert, stört sich an Alys zentraler Erkenntnis. Er zeigt, wie die in Deutschland und Österreich seit den Fünfzigerjahren mit großer Zustimmung der Bevölkerung etablierte Form des Sozialstaats Elemente der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt mit ihrer Integration der Gewerkschaften in die Solidargemeinschaft und ihrer Sicherung bezahlter Urlaubs- und Krankheitstage übernommen hat. Der Nationalsozialismus ebenso wie der postnazistische Fürsorgestaat wies „sozialistische“ Charakteristika auf.

Konservative wiederum stören sich dran, dass Aly statt von „den Nationalsozialisten“ von „uns“ spricht, weil der Nationalsozialismus keine traditionelle Diktatur – keine der Bevölkerung oktroyierten Fremdherrschaft –, sondern eine mörderische Form der Volksherrschaft gewesen sei. Er sei kein Gegensatz zur Demokratie, sondern deren Produkt gewesen. Doch auch Feministinnen und Katholizismus-Verächter können mit den Einsichten, die Aly in Wien polemisch kondensiert darbot, wenig anfangen: Mit der Tatsache zum Beispiel, dass die Nationalsozialisten „arische“ Frauen durch beispiellose Reformen der Ehe- und Familiengesetzgebung in der Zeit seit dem Angriffskrieg auf Polen ökonomisch emanzipierten, indem sie ihnen am Einkommen der eingezogenen Ehemänner orientierte Unterhaltszahlungen gewährten. Auch die Bevölkerungsmassen, die sich an den seit 1941 verstärkt stattgefundenen öffentlichen Deportationen und Plünderungen jüdischer Einrichtungen beteiligten, bestanden wegen der kriegsbedingten Abwesenheit von Männern zu einer großen Zahl aus Frauen.

„Gemeinschaft auf Pump“

Als Residuum von Widerstand oder zumindest partieller Renitenz in der deutschen Bevölkerung machte Aly – auch dies eine unpopuläre Einsicht – statt der kommunistischen Untergrundgruppen, die es auch gab, vor allem die Katholiken aus. Während die evangelische Kirche schon vor 1933 gegenüber den Nationalsozialisten nicht selten vorauseilenden Gehorsam an den Tag legte, habe sich der Katholizismus, wegen seiner das Sakrale als Geheimnis schätzenden religiösen Praxis, gegenüber volksgemeinschaftlicher Agitation als spröde erwiesen. Mit der Diagnose der nationalsozialistischen Liquidierung von Privatheit hing auch die Pointe zusammen, die Aly dem Abend gab: die These, dass das „Deutsche Reich“ sich als totaler und tendenziell suizidaler „Verbrechenszusammenhang“ beschreiben lasse, der sich nur durch Inkaufnahme kollektiver Selbstzerstörung aufrechterhalten ließ.

So wie sich mit Beginn des in der deutschen Bevölkerung anfangs sehr unbeliebten Kriegs im Osten die innenpolitische Volkswohlfahrtsökonomie als unfinanzierbar und die Volksgemeinschaft als „Gemeinschaft auf Pump“, als Verschuldungsgemeinschaft erwies, so schweißte Aly zufolge der „Bestialismus“ die Volksgemeinschaft, die ihn trug, als potenzielle Selbstmordgemeinschaft zusammen. Da die begangenen Verbrechen menschliches Maß immer stärker überschritten, erschienen alle, auch die nur passiv Beteiligten, als Komplizen, die einander deckten und füreinander logen. Notfalls mussten sie in den Tod gehen, um die drohende Strafe zu vermeiden oder wenigstens nicht zu erleben.

Diese Logik fasste Aly unter der Formel „Kraft durch Furcht“ zusammen. Dass es zu jenem Strafgericht nicht kam, dass vielmehr die westlichen Siegermächte die Bundesrepublik nach und nach als Teil der zivilisierten Staatengemeinschaft anerkannten, von denen der Staat, dessen Rechtsnachfolger sie war, sich verabschiedet hatte, ermöglichte die Form der Geschichtsschreibung, für die Aly steht. Moralischen Besserdeutschen ist sie heute ein Ärgernis.

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