Es wird gleich am Anfang deutlich, worum es geht. Mit den ersten beiden Werken, die im Pavilhão Ciccillo Matarazzo das Blickfeld einnehmen. Auf der rechten Seite ein riesiger Garten mit Erd- und Steinhügeln, Bäumen, Moosen und anderen Pflanzen aus dem brasilianischen Cerrado, der Feuchtsavanne. Die Installation „Sun of Consciousness. God Blow Thru Me – Love Break Me“ von Precious Okoyomon schafft eine Atmosphäre der Ruhe und Erholung.
Sie lädt auf der 36. Biennale von São Paulo (der wichtigsten Ausstellung zeitgenössischer Kunst in Südamerika und nach Venedig zweitältesten Kunstbiennale der Welt) ein, sich Zeit zu nehmen, ein überraschend grünes Ökosystem aus dem brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais im weißen, modernistischen Biennale-Pavillon zu betrachten. Man geht lächelnd umher, atmet die Luft voll Kräuteraromen ein, das Bewässerungssystem verströmt Feuchtigkeit.
Doch der Garten, der den Lauf der Zeit, die Widerstandsfähigkeit und das Umweltgedächtnis widerspiegeln soll, ist künstlich, im Parque Ibirapuera, einem der größten und wichtigsten Stadtparks des Landes, in dem der von Oscar Niemeyer entworfene Matarazzo-Pavillon liegt. In den Meditationsort der nigerianisch-amerikanisch stämmigen Okoyomon dringt von der linken Seite der Klang einer Wand mit Radiolas, einem großen Soundsystem, der Künstlerin Gê Viana aus dem Bundesstaat Maranhão herüber; die Radiolas werden im „Jamaica Brasiliens“ für Reggae-Partys benutzt.
Dieser Gegensatz zeigt, wie das Konzept von dem diesjährigen Biennalekurator Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, seit Januar 2023 Intendant vom Berliner Haus der Kulturen der Welt, umgesetzt wird.
Die aktuelle Ausstellung nahm vor circa zwei Jahren Form an, als ein Komitee einen kuratorischen Vorschlag auswählen sollte, der die aktuellen Herausforderungen widerspiegelt. „Das Ergebnis war die Wahl von Bonaventure“, erklärt Biennale-Präsidentin Andrea Pinheiro. „Das Projekt stößt sowohl aufgrund seiner Kraft als auch seiner Poesie Themen von äußerster Wichtigkeit an. Es stärkt die Biennale als Ort der Reflexion über die drängenden Fragen unserer Zeit.“
Die Idee der Menschlichkeit
Der Titel „Nem todo viandante anda estradas – da humanidade como prática“ (Nicht jeder Wanderer geht auf Straßen – von der Humanität als Praxis) ist dem Gedicht „Da Calma e Do Silêncio“ der afrobrasilianischen Dichterin und Schriftstellerin Conceição Evaristo entlehnt; die Biennale von São Paulo (bis 11. Januar 2026) möchte neue Formen der Menschlichkeit vorstellen, die auf Begegnung und Dialog zwischen sozialen und kulturellen Gruppen basieren, Stimmen am Rande hegemonialer Narrative neu positionieren.
Dazu hat Ndikung die Ausstellung wie ein Buch mit sechs Kapiteln gedacht. Das erste Kapitel handelt von der Erde und der natürlichen Kraft, die das Leben erhält, Arbeiten aus Materialien wie Erde, Wurzeln, Steinen überwiegen. Bei den anderen Kapiteln geht es um Widerstand gegen Gewalt, Migrationsströme, natürliche Heilpraktiken, die Unvermeidbarkeit von Veränderungen, die politische Bedeutung von Schönheit.
Die Idee der Menschlichkeit als Praxis wird wie bei dem künstlichen Garten, einem der am meisten fotografierten Motive, und den Radiolas anhand von Kontrasten und Divergenzen zwischen Werken und Künstlern untersucht, die die Vielfältigkeit der Bedeutungen des Begriffs Menschlichkeit verkörpern. Egal, welchen Weg man im Pavillon einschlägt, die Gegensätze sind da, wie auch in den Millionenmetropolen Rio de Janeiro oder São Paulo.
Viele Menschen schaffen es nur, mit sozialer Ungleichheit und Gewalt zu leben, weil sie nicht hinsehen, nicht mitfühlen. Auf der Biennale sind sie gezwungen, hinzuschauen. Das Konzept, inspiriert von brasilianischen Landschaften wie dem Cerrado und geleitet von der Metapher des Flussmündungsgebiet – einem Ort, an dem Wasserströme aufeinandertreffen und einen Raum der Koexistenz schaffen –, geht auf.
Die meisten der insgesamt 125 Künstler, viele aus Afrika, Südamerika und Asien, gehören zur Diaspora; leben nicht in ihrer ursprünglichen Heimat, reflektieren über die Praktiken ihrer Vorfahren. „Das Interessanteste ist, verschiedene künstlerische Praktiken zu sehen. Die alten Positionen darüber, wo die Zentren der Welt sind, sind nicht mehr gültig“, sagte Ndikung auch mit Blick auf das Konzept des „Globalen Südens“.
So ist Adama Delphine Fawundu in New York geboren und aufgewachsen, ihre Familiengeschichte reicht nach Westafrika. Wenige Tage vor der Eröffnung nähte sie im Pavillon eine riesige Decke aus Stoffen und Plastik, die sie auf den Straßen von Sierra Leone gefunden hatte. Dazu kommen Fotos und Amulette aus der Gemeinschaft ihrer Familie. „Diese Materialien haben unterschiedliche Identitäten, aber ähnliche Heilungszwecke“, sagte Fawundu. „Was bedeutet es, Menschen zusammenzubringen, um darüber zu meditieren, wo wir stehen?“
Eines der auffälligsten Werke im Matarazzo-Pavillon, dessen geschwungene Treppen und Seitengalerien es wie einen Altar umgeben, ist das große Wandgemälde „Philosophies of Being, Perception, and Expressivity of Being“ von Tanka Fonta aus Kamerun, der in Berlin lebt und arbeitet. In lebhaften, pulsierenden Farben zeigt es Menschen, Tiere und Pflanzen in lockeren, geschwungenen Formen und spiegelt die Vielfalt der Weltsichten, eines der sechs Themen der Biennale, wider. Oben kann man mit Kopfhörern Musik, gespielt vom Orchester des Teatro São Pedro in São Paulo, hören.
Doch der „Globale Süden“ muss auch im „Globalen Süden“ erst ankommen, wie die Ausstellung in São Paulo zeigt. Das geopolitische Konzept, mehr und mehr über die Zuordnung zu einer Ländergruppe hinauszugehen und Kontext der Dekolonialisierung diskutieren, ist anscheinend auch in einer der größten Städte Lateinamerikas erklärungsbedürftig.
Manche Besucher haben beim Rundgang – wie bei Okoyomon – jedenfalls das Gefühl, etwas Neues zu entdecken. Kunst, die hier und jetzt erstmals zu sehen ist. Tatsächlich können viele der Künstler wie Frank Bowling, Leiko Ikemura, Madame Zo oder Huguette Caland zwar auf eine lange internationale Karriere zurückblicken, doch erreichen sie erst jetzt das Publikum in Brasilien.
Historische Lücken schließen
In den vergangenen Jahren haben Museen, Galerien und Ausstellungen weltweit Anstrengungen unternommen, die Vielfalt zu erhöhen, auch bei der Biennale von São Paulo 2023 war dies bereits der Fall. Werke von brasilianischen Künstlern sind auf der diesjährigen Ausgabe nun insgesamt weniger zu sehen, wofür Bonaventure Ndikung in Brasilien auch kritisiert wurde. Im Fokus stehen unter ihnen vor allem afrobrasilianische und indigene Künstler.
Die Bronzeskulpturen von Nádia Taquary, deren Arbeit von Geschichten und Traditionen schwarzer Frauen aus der Kolonialzeit inspiriert ist, waren der Favorit mehrerer Besucher, etwa des deutsch-brasilianischen Sammlerpaares Stefan Vilsmeier und Sérgio Linhares aus München. Taquarys beeindruckende, unheimliche Skulpturen interpretieren den weiblichen Körper als Vogel ähnliche Figuren. Zu der Installation „Ìrokò: A árvore cósmica“ gehört auch ein leuchtend-orangener Baum aus Fiberglas.
Unter den Entdeckungen sind auch brasilianische Künstler wie Marlene Almeida oder Alberto Pitta, die schon lange produzieren und nun erstmals auf einer internationalen Biennale zu sehen sind. „Die Präsenz all dieser Künstler offenbart eine historische Lücke“, schreibt die renommierte brasilianische Zeitung „Folha de S. Paulo“, „die Schwierigkeit Brasiliens, mit Produktionen aus Afrika und Asien einen konsistenten Dialog zu führen.“ Brasilianische Museen wie das Museu de Arte de São Paulo (MASP) mit seinen „Histórias Afro-Atlânticas“ über den Sklavenhandel zwischen Afrika, den Amerikas und Europa haben bereits versucht, dieser Vernachlässigung entgegenzutreten.
Nach Brasilien wurden mehr Menschen aus Afrika verschleppt als in die USA, aktuellen Forschungen zufolge mehr als 5,5 Millionen Sklaven. Um die Erinnerung wachzuhalten und die Geschichte der Sklaverei und ihrer Folgen aufzuarbeiten, fordert eine neue Generation von Afrobrasilianern etwa eine Aufarbeitung der Wurzeln des strukturellen Rassismus, erobert Räume in Politik und Kultur.
Künstlerischer Leiter des MASP ist der Brasilianer Adriano Pedrosa, im Jahr 2024 der erste Kurator aus dem „Globalen Süden“, der die Kunstbiennale von Venedig leitete. Pedrosa hatte in Venedig den Ansatz, indigene Kunst und eine globale Moderne zu zeigen. Dies hat nachgewirkt, jedenfalls in Brasilien.
Es hat etwa den Effekt, dass heute fast jede brasilianische Galerie auf internationalen Kunstmessen mindestens einen afrobrasilianischen oder indigenen Künstler präsentiert. Indem Bonaventure Ndikung zur Vorbereitung der Biennale von São Paulo künstlerische Treffen in Sansibar, Marrakesch, Guadeloupe und Tokio abgehalten hat und nun Künstler ausstellt, die in Brasilien eher unbekannt sind, trägt er zur Erweiterung des Blicks auf den „Globalen Süden“ im brasilianischen Kunstsystem bei.
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