Die gute Nachricht zuerst: In Dorothee Elmigers Roman „Die Holländerinnen“ geht es nicht um Fragen der eigenen Identität. Keine Autofiktion, nirgends, auch kein Ich, das mehr oder weniger kaschiert durch den Roman spaziert, der immerhin „der Roman des Jahres“ sein soll, ausgewählt als bester aus 200 eingereichten.

Dorothee Elmiger, die 1985 in der Schweiz geboren wurde und heute überwiegend in New York lebt, hat ein anderes Projekt, und das seit vielen Jahren: die möglichst genaue poetische Durchdringung von Phänomenen, Ereignissen und Bildern. Oft sind es unheimliche oder unerhörte Begebenheiten, die von Elmiger durchdacht, begrübelt, gewendet werden – was wiederum von manchen als schlechte Nachricht gewertet werden dürfte: Elmiger könnte man, hätte das keinen so negativ-anämischen Klang im Deutschen, einen „writer‘s writer“ nennen, eine Schriftstellerin, die für diejenigen schreibt, die sich mit dem Schreiben beschäftigen.

Im Roman, der gerade mit dem mit 25.000 Euro dotierten Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden ist, erscheinen Lacan, Bernhard, Adorno, Brueghel oder Bartleby schon auf den ersten der insgesamt 160 Seiten, die in indirekter Rede gehalten sind; Elmiger eine Konjunktivfreudigkeit zu unterstellen wäre eine Untertreibung.

„Die Holländerinnen“ ist aber erst einmal ein Abenteuerroman, der in den realen Dschungel und gleichzeitig in den des Denkens führt. In der Rahmenhandlung berichtet eine fiktive Schriftstellerin von ihren Erfahrungen bei einem seltsamen Projekt eines Dokumentartheatermachers im Dschungel von Panama: Dort hat sie für einen Mann gearbeitet, der Werner Herzog bewundert und manchmal an Christoph Schlingensief erinnert und dem schaurigen Schicksal zweier junger niederländischer Wanderinnen nachging, die im Dschungel verschollen sind – eben den titelgebenden „Holländerinnen“, die eine reale Vorlage haben.

2014 verschwanden zwei Niederländerinnen im panamaischen Dschungel vom El Pianista Trail, die 22-jährige Lisanne Froon und die 21-jährige Kris Kremer. Bis heute ist der Fall nicht gelöst: Gefunden wurde nur ein Rucksack, der eine Kamera mit seltsamen Aufnahmen von einem Gipfel enthielt – und, später, Fragmente ihrer Knochen. Für die Crew um den Dokumentartheatermacher im Roman Anlass für ihre Expedition, deren eigentliches Ziel im Verlauf aber unschärfer wird, je tiefer es in die Finsternis – irgendwo zwischen Joseph Conrad und „Blair Witch Project“ – hineingeht.

Ein seltsam hypnotischer Realismus

Formal ist „Die Holländerinnen“ nicht ganz leicht zu fassen: Elmiger recherchiert für ihre Romane wie eine besonders genaue Historikerin, sortiert Material, schichtet es um – und dieser Blick ist es, der sich dann im Roman übersetzt in einen seltsam hypnotischen Realismus, der einen an das „nature writing“-nahe Frühwerk von W. G. Sebald erinnern kann.

Bei der Verleihung des Buchpreises war, wie jedes Jahr, in den Ansprachen die Rede von der Literatur als Mittel zum Zweck: Romane seien in unruhigen Zeiten wie diesen dazu da, „offene Räume“ bereitzustellen, „Ambivalenz“ zuzulassen, „Vielfalt“ sichtbar zu machen, Zeit zu schenken und Entschleunigung, den Moment zum Verweilen, zum Innehalten zu ermöglichen. Diesem Verständnis von Literatur als Kuscheldecke für gestresste Gegenwartsseelen verweigert sich Dorothee Elmiger radikal mit ihrem literarischen Plädoyer zum Rätselhaften. Auch das spricht für sie als Gewinnerin des deutschen Buchpreises.

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