Man muss diesem Sonntagabendkrimi eigentlich gar nicht so viel verzeihen, dass es wirklich nötig gewesen wäre, zur Wiedergutmachung Martin Brambach am Ende Thomas Brasch rezitieren zu lassen. Diesen Suchenden, wie Brambachs Kommissar Schnabel den im Labyrinth seines Ichs, seines Landes, seiner Familie sich wund denkenden und fühlenden genialen Kerl nennt. 

Es ist jener Siebenzeiler Braschs, mit dem er sich in die deutsche Lyrik-Hall-of-Fame eingeschrieben hat. Ein Text voller „aber“, voller Ortlosigkeit, voller Woandersseinwollen. Der, da hat Schnabel, dieser geläuterte Wutbürger, ganz recht, prima passt zu dem, was da gerade geschehen ist im Dresdener „Tatort“. Der heißt ganz süß „Siebenschläfer“. Niedlich aber ist an ihm so gut wie nichts.

Mit „Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber/ wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber“ geht Braschs Text los, mit „wo ich sterbe, da will ich nicht hin:/ Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“ hört er auf.

Die nicht bleiben will, wo sie ist, im „Siebenschläfer“ nämlich, einem vermeintlichen Vorzeigeheim für Kinder und Jugendliche, heißt Lilly. Sie ist 16. Man hört sie mit jemandem reden. Sie packt ihre Sachen. Pascal ist auch noch da. Sie wollen gemeinsam weg, so scheint es.

Lilly wurde ihrer Mutter weggenommen, weil die unter Alltagsorganisationsunfähigkeit litt und sich mit Männern umgab, denen Lilly am späten Abend immer die Pornos ausschalten musste, über denen sie eingeschlafen waren. Sagt die Heimleitung. Pascal ist ein Systemsprenger mit extremen Problemen bei der Aggressionskontrolle.

Ein gesellschaftliches Stationendrama

Es ist grau am nächsten Morgen. Pascal erwacht im Wald mit schwummrigem Kopf. Nicht weit weg liegt Lilly am See. Sie ist tot.

So könnte natürlich ein Kriminalfilm anfangen. Der will aber „Siebenschläfer“ gar nicht werden. Ist es am Ende nur verschwommen und notdürftig. „Siebenschläfer“ –  geschrieben von Silke Zertz und Frauke Hunfeld, inszeniert von Thomas Sieben – ist, was deutsche Sonntagabendkrimis gern sind, eher ein gesellschaftliches Stationendrama. Schnabel und Kommissarin Winkler, seine einzige noch verbliebene Mitarbeiterin, nachdem Karin Hanczewskis Kommissarin Gorniak nicht bleiben wollte, wo sie war, gehen auf den Kreuzweg ins Innere eines sozialen Notstandsgebiets.

Alle wollen ja das Beste für die Kinder. Die Eltern, die Erzieher, die Psychologen, die Polizisten. Aber nach dem geradezu umgekehrt-mephistophelischen Prinzip, nachdem in Deutschland immer da, wo das Gute gewollt ist, das Böse geschafft wird, geht alles so lange schief, bis eine Leiche herumliegt. Oder – wie in  „Siebenschläfer“ – zwei.

„Siebenschläfer“ ist – das aber nur nebenbei – der Mittelteil eines Triptychons der Jugenddramen. Von „Sie sind unter uns“, dem Schul-Amoklauf im Magdeburger „Polizeiruf“, wurde er eröffnet, „Tu es“, der neue „Polizeiruf“ aus Rostock schließt die Trilogie kommende Woche ab. Man könnte System dahinter vermuten, dass man sich in der ARD bemüht relevanter bei einer Zielgruppe zu werden, die Öffentlich-Rechtliche für die Zukunft dringend brauchen. Aber das würde zu weit führen.

Zurück zu Schnabel. Der war selbst mal in einem Heim, gesteht er. Das klärt ein bisschen was vom Unegalen seines Charakters. Macht ihn menschlich. Für uns und für Pascal, dem er näher kommt. Von dem er nicht glaubt, nicht hofft, dass er mehr ist als ein Zeuge. Bevor es so weit ist, bevor Schnabel mit Winkler und Brasch im Auto sitzt, muss er – so geht das im deutschen Sonntagssozialkrimi – weniger den Fall lösen, als aufklären über die Zwangslagen, von denen alle Beteiligten in der Jugendpflege umstellt sind. In denen sie sich wund denken und fühlen.

Man schaut zunehmend verzweifelt zu, wie man Nora Fingscheidts „Systemsprenger“ zugeschaut hat. Und vergisst darüber, wo man ist. In einem Kriminalfilm nämlich. Und dass deswegen da ja irgendwo im Dickicht der Dilemmata noch ein Mörder versteckt sein muss, auch wenn man vielleicht gar nicht so genau wissen will, wer sich tatsächlich schuldig gemacht hat.

Und weil das mit dem Nichtsogenauwissenwollen möglicherweise auch Zertz und Hunfeld so ging, weil auch sie alle so lieb gewonnen hatten und so gut verstehen konnten, schubsen sie – man kann es nicht anders sagen – erst fast ganz am Schluss jemanden aus der Peripherie in den Fokus von Schnabel und Winkler.

Ist eher unglücklich. Aber das passt ja. Zu „Siebenschläfer“, zu den Kindern. Und zu Thomas Brasch.

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