Die Bühne (Duri Bischoff) ist diesmal ein Fitness-Studio – und damit, wie beim Regisseur Christoph Marthaler üblich, die ganze Welt. Verstreut liegen Hanteln herum, von ganz klein bis ganz groß. Neben Hanteln gilt es an diesem Abend frühe Gedichte von Elfriede Jelinek zu stemmen. Die Aufgabe übernimmt das sechsköpfige Ensemble aus Teil eins („Die Sorglosschlafenden/ Die Frischaufgeblühten“ nach Friedrich Hölderlin) und Teil zwei („Im Namen der Brise“ nach Emily Dickenson) der aktuellen Trilogie. Links und rechts am Bühnenrand steht jeweils ein Klavier, über jedem hängt ein Seilzug, so kann die Frau oder der Mann am Instrument nicht nur die Finger, sondern auch den Bizeps trainieren. Darüber hinaus gibt es einige entfernt an Trimm-Dich-Geräte erinnernde Stahlrahmenkonstruktionen zweifelhafter Herkunft und Funktion.

Wer trainiert, glaubt an eine Zukunft

Wer aber trainiert, glaubt an eine Zukunft. Anders als Frank Castorfs „Hamlet“ eine Woche zuvor, der in den Ruinen Europas und einem Atombunker spielend über Strecken zu einer Sekundärtext-Lesung geriet, bot Marthaler im zweiten Teil der Saison-Eröffnung am Hamburger Schauspielhaus kurzweilig-poetisches Musiktheater, das die Hoffnung am Leben hält. Zu Beginn des Stückes steht eine Trockenschleuder hinter den Hanteln im Mittelpunkt des Geschehens. Jeder Darsteller kommt mit einem Unterwäschestück auf die Bühne, stellt sich in die Schlange, bis er an die Reihe kommt. Der Trockner schleudert bestimmungsgemäß, die Trommel dreht sich rhythmisch. Pianist Bendix Dethleffsen nimmt den Rhythmus am Klavier auf und macht die Trockenschleuder-Trommel zum Begleitinstrument.

Eine ähnliche Funktion wie die Trockenschleuder erfüllt auch die eher unbekannte Lyrik Elfriede Jelineks aus den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Die Texte der seinerzeit späteren Literaturnobelpreisträgerin bringen statt Wäsche die Gefühle der Zuschauer ins Schleudern, vor allem im Kampf der Geschlechter und in der Aufarbeitung archaischer Genderbilder in den Anfangsjahren der Emanzipation, die heute plötzlich, so schließt sich der Kreis der Schleudertrommel, wieder enorm wichtig wird. Früh nutzte Jelinek Elemente der Popkultur in ihren Texten – in den Gedichten und Hörspieltexten gern Operetten- und Schlagertitel, mit denen sich die Protagonisten bei Marthaler ansprechen und ganze Dialoge liefern. „Du süße kleine Klingelfee“ korrespondiert herrlich-dämlich mit „Du hast Glück bei den Frau’n, Bel Ami“.

Er Tarzan, der gut gebaute Mann. Sie Jane, unerfüllt

Dethleffsen spielt nicht nur Klavier, sondern auch Tarzan, der sich selbst in nahezu jedem Satz als „athletisch gebauter Mann“ beschreibt. Fee Aviv Dubois als Jane fühlt sich von sowas nicht angezogen, sondern „unerfüllt“. Die sprachliche Komik des Abends wird durch herrliche Slapstickeinlagen ergänzt, was wiederum wundervoll zur Trivialebene in den Gedichten passt. Weder Marthaler noch Jelinek unterscheiden in ihrem Werk zwischen Hochkultur und Kultur für alle. Das Musikprogramm Marthalers reicht von Johann Sebastian Bach bis zu den Red Hot Chili Peppers, die Schauspielkunst von magischen Zirkusmomenten bis zu hoher Schauspielkunst.

Alle sechs Darsteller turnen, wenn aus einem Lautsprecher an der Wand ein Glockenton erklingt und eine Stimme unverständliche Kommandos bellt. Später bricht ein Ansager in sadistisches Lachen aus. Zu den weniger begnadeten Turnern zählen Charles Lindbergh (Magne Håvard Brekke) und seine Frau Anne (Sasha Rau). Sie versucht in der ersten Hälfte des knapp zweistündigen Abends, ihren Gatten vom Atlantikflug abzuhalten – aus Sorge um den gemeinsamen Sohn. Doch kaum ist es ihr gelungen, Charles umzustimmen, kaum hat er gesagt: „Ich steige nicht auf“, wechseln die beiden die Haltungen, die Argumente. Nun will er nicht mehr fliegen, aus Sorge ums Kind, während sie ihn drängt. Eine/r von beiden muss ja schließlich Karriere machen.

Statt „Leidenschaft im See“ lieber „Schwanensee“

Der berühmte Dirigent (Samuel Weiss) komponiert in seiner kargen Freizeit ein mehr oder minder neues Ballett. Es soll auf Vorschlag der jungen Tänzerin Natascha (Josefine Israel) „Schwanensee“ heißen und nicht etwa, wie vom Dirigenten geplant, „Leidenschaft im See“. In Natascha keimt bald der Verdacht auf, das Stück könne ein älteres sein, aber der berühmte Dirigent will davon nichts wissen: „Unmöglich, viel zu modern“. Aus dem sinnfreien Geschehen heraus, das wie bei Marthaler üblich selbst stärker an eine Komposition mit Choreografie erinnert denn an ein Drama, bilden sich immer wieder Konstellationen, in denen musiziert wird, am Klavier, in Gesangsstimmen, im Chor. Dabei erklingt in mehrstimmigen Arrangements eine große Bandbreite von Genres und spannt einen musikalischen Bogen, der auch die Lyrik umschließt.

Nach einem instrumentalen Auftakt mit Beethoven erklingen etwa „Le petit rat“ von Suzy Solidor, das „Ständchen“ aus dem „Schwanengesang“ von Franz Schubert, „Dark Necessitities“ von den Red Hot Chili Peppers, die „Kreisleriana“ op. 16 sowie „Variationen und Fuge über ein Thema von Johann Sebastian Bach“, op. 59 und zum Abschluss „Shout“ von Tears for Fears – da liegen die Spieler mit dem Rücken hingestreckt auf flachen Transportbrettern mit je sechs Rollen und beschreiben durcheinander, von den eigenen Beinen angeschoben, willkürliche Bahnen das zuvor leergeräumte Hantel-Paradies, ohne zu kollidieren. Sie erinnern dabei sowohl an Sterne, die ihre Bahnen am Himmel ziehen als auch an Käfer, die nach einer Verwandlung wahllos umherkrabbeln. Die Musik aber wird zum Schluss arrangiert wie ein sakrales Chorwerk, das gefühlt eine Kirchenkuppel über der Bühne entstehen lässt und sie zu einem Ort des Trostes macht, der dem trotzigen Wort einer einsamen Dichterin, der Kraft ihres lyrischen Ich entspringt.

Termine: 5., 17. November

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