Vor 200 Jahren, am 11. Oktober 1825, begann eines der irrsten Leben der Literatur des 19. Jahrhunderts – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn das gesamte Werk Conrad Ferdinand Meyers wurde „im Zwischenraum zweier Internierungen in Irrenanstalten geschrieben“ – so beschrieb es der Meyer-Verehrer Friedrich Kittler in seiner Dissertation von 1977. Und in diesem Zwischenraum pflegte Meyer eine Arbeits- und Lebenspartnerschaft mit seiner Schwester Betsy, die schon den Zeitgenossen immer verdächtig war und Sigmund Freud – auch er ein begeisterter Meyer-Leser – dazu bewegte, die späte Novelle „Die Richterin“ als poetisch kaum verklausuliertes Eingeständnis eines Inzests zu interpretieren.
Dass ausgerechnet der Außenseiter-Literaturwissenschaftler Kittler und der psychoanalytische Revolutionär Freud Meyer-Fans waren, sollte allein schon genügen, bei diesem Autor noch einmal genauer hinzuschauen und sich nicht von der Fassade täuschen zu lassen. Vordergründig hat er Fiktionen über geschichtliche Figuren geschrieben wie so viele andere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Historismus und Realismus sich küssten. Von vergleichbaren Werken deutscher Zeitgenossen unterschieden sie sich anscheinend nur durch ihren stolzen helvetischen Patriotismus und ihren strammen spezifisch calvinistischen Protestantismus.
Trotzdem wurden sie gerade im Deutschen Kaiserreich zu Bestsellern. Meyers 1876 erschienener einziger Roman „Jürg Jenatsch“ kam noch zu Lebzeiten des Autors bis 1898 auf 30 Auflagen, 1907 war die 80. Auflage erreicht. Seine Novellen wie „Der Heilige“ wurden von einem Literaturmarkt, in dem auch Theodor Storm und Wilhelm Raabe mit dieser Textgattung gutes Geld verdienten, gierig aufgenommen und in vielgelesenen Zeitschriften wie der „Deutschen Rundschau“ veröffentlicht. Sein Gedicht „Der römische Brunnen“, eines der formvollendeten Poeme der deutschen Literaturgeschichte, fehlt bis heute in keiner Anthologie.
Aber unter dieser gut verkäuflichen Oberfläche lauerte etwas ganz anderes. Eine große Furcht vor der eigenen prekären psychischen Existenz und ein geradezu postmodern wirkender Zweifel an der Realität überhaupt. Mit zwanzig war Meyer zum ersten Mal mit schweren Depressionen in eine Heilanstalt eingewiesen worden. Nachdem er dort wieder herausgekommen war, diente seine ganze literarische Produktion wohl auch dem geheimen Zweck, sich selbst zu beweisen, dass er das frühe Verhängnis überwunden hatte. Dennoch: „Am Ende war ich gar nicht dort“, schätzte der späte, 1892 in eine Halb-Umnachtung gefallene Meyer sein Leben rückblickend ein. Der Zürcher Literaturprofessor Philipp Theisohn räumt diesem Zitat, mit dem im Wahn eine Wahrheit ausgesprochen wird, den Rang einer Kapitelüberschrift ein.
In seiner Meyer-Biografie, die dem Anspruch eines neuen Instant-Standardwerks gerecht wird, bringt er ein sagenhaftes Kunststück fertig: Noch spannender als die Beschreibung von Meyers Leben lesen sich die Interpretationen seiner Werke, in denen Theisohn nicht nur die literarischen Produkte zergliedert, sondern auch zu den Seelenzuständen durchdringt, die Meyers Schaffen zugrunde liegen. Sigmund Freud hätte das mit Begeisterung gelesen.
Zu den heute noch satisfaktionsfähigen Bewunderern Meyers zählte auch Harry Graf Kessler, der im „Jürg Jenatsch“ den fanatisch nationalistischen Typus des frühen 20. Jahrhunderts vorweggenommen sah: „Vielleicht kann es erst unsere Zeit, können erst wir, die wir Weltkrieg und Revolution erlebt haben, seine ganze Tiefe und Wahrheit erkennen. (…) Jürg Jenatsch ist ein Ungeheuer, aber ein Monstrum, das seiner Zeit weit voraus ist, dessen Nachkommenschaft im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert die Welt beherrschen sollte.“
Kittler, Freud, Kessler – damit ist die Reihe derjenigen, die in dem nach außen so ultrabräsig schweizerhaft wirkenden Meyer einen der Größten erkannten, noch nicht vollständig. Auch zwei epochale Lyriker sahen in ihm ihren Ahnherren. Den „ersten Symbolisten seiner Zunge“ hat ihn ein Literaturhistoriker genannt, und Hugo von Hofmannsthal und Stefan George erkannten das schon früh. Letzterer hat ihn 1902 als Einzigen mit gleich 15 Gedichten in den dritten Band „Das Jahrhundert Goethes“, der gemeinsam mit Karl Wolfskehl herausgegebenen Anthologie „Deutsche Dichtung“ aufgenommen. Storm, Fontane, Liliencron oder Keller wurden nicht für würdig gehalten.
Denn sie waren in den Augen der Jüngeren dem „Verhängnis des stoffüberladenen, geschichtsversessenen und naturobjektsüchtigen 19. Jahrhunderts“ (Theisohn) verfallen – wie übrigens auch Meyer noch in vielen seiner Gedichte, beispielsweise in der Historienballade „Huttens letzte Tage“. Dieses Stückchen gehörte in den Augen Hofmannsthal wohl zu den „zweihundert Gedichten, die keine Pietät am Leben halten kann“. Aber er fand in Meyers Lyrik eben auch „vielleicht zwölf oder fünfzehn, die dem höchsten Rang sich nähern, und sieben oder acht, die ihn erreichen.“
Wobei Meyers Lyrik mit Einschränkung zu lesen ist. Denn die Schwester Betsy war deutlich mehr als nur seine Sekretärin, sondern legte auch Hand an die Form der Texte an. Er war schon der Hauptschöpfer, aber sie trug nicht wenig bei. Theisohn schreibt ominös von der „Autorschaft C. F. Meyer“.
„Wahnvorstellungen und fixe Ideen“
Diese endete 1892 zumindest von Seiten des Bruders (die Schwester korrigierte, änderte und verbesserte noch einiges in Neuauflagen), obwohl Meyer nach 15 Monaten in der Irrenanstalt Königsfelden immerhin so weit wieder hergestellt war, dass seine Frau Johanna Luise ihn herausholen und in Hauspflege nehmen konnte. Nach ihrer Interpretation, zumindest der offiziellen, hatte er die Pflege und Aufsicht aber nur begrenzt nötig. Es gehe ihm wieder gut, er sei erholt und könne sogar wieder reisen, ließ sie die interessierte Öffentlichkeit wissen.
Gegenläufige Pressearbeit betrieb lange Zeit Betsy, deren Indiskretionen ein eher pessimistisches Bild zeichneten. Auf sie geht wohl zurück, was man im August 1892 in der „Frankfurter Zeitung“ las: „Wahnvorstellungen und fixe Ideen sollen den Kranken beherrschen und seine Genesung ist leider nicht abzusehen. Eine erbliche Anlage dürfte der Ausgangspunkt dieses Gehirnleidens sein.“
Die Vererbung kam von Seiten der Mutter, die sich 1856, erdrückt von Schuldkomplexen, im Fluss Zihl ertränkt hatte. Und sie wurde weitergereicht an Camilla, die Tochter von Louise und Conrad Ferdinand Meyer, die sich, nach einem Leben, in dem sie selten etwas anderes war als eben Tochter, 1935 ebenfalls ertränkte – bald nachdem sie noch ein Glückwunschtelegramm zum 60. Geburtstag an den auf der anderen Seite des Zürichsees im Exil weilenden Thomas Mann geschrieben hatte.
Eine Familie also wie aus einem Stück von Henrik Ibsen, der Vererbung als Verhängnis literarisch produktiv gemacht hat – ganz im Geiste des von Genetik und Eugenik besessenen Fin de Siècle. Den aufsteigenden Stern am damaligen Dramatikerhimmel hat Meyer natürlich auch gelesen. Zu Ibsens „Gespenster“, dem „abscheulichen Familiendrama“, in dem der Künstler Osvald inzestuös die Schwester liebt, bevor er aus Angst vor ererbter Hirnerweichung Selbstmord begeht, schreibt Meyer abwehrend an seine Freundin und Kollegin Johanna Spyri: „Wie weit sich Genie verirren kann.“ Aber in „Hedda Gabler“ ist er verräterischerweise vom „Seelen- und Arbeitsbündnis“ zwischen Jorgen Tesman und Fräulein Elvsted fasziniert, die das vernichtete Buch eines Toten rekonstruieren.
Wie eine Szene aus einem Ibsen-Drama spielte sich auch eine der letzten öffentlichen Begegnungen Meyers ab: Im Korridor des Hotels „Rigi-Scheideck“ entdeckte ihn 1897 die deutsche Literaturbetriebsgröße Karl-Emil Franzos. Die beiden führten seit 1884 einen Briefwechsel. Franzos wollte Meyer als Mitarbeiter seiner Zeitschrift „Deutsche Dichtung“ gewinnen. Er bemühte sich um ein Treffen, das Meyer aber, nervlich immer geschwächter, zweimal kurz zuvor absagte.
Das dritte Treffen vermeidet dann Franzos, der natürlich alle Indiskretionen über Meyers Zustand in der deutschen Presse gelesen hat und sich von dessen Anblick auch nicht ermutigt fühlt: „Langsam gebeugten Haupts kam er daher. Einen Augenblick schwankte ich, dann trat ich rasch beiseite, dass er mich nicht sehen konnte.“ Eineinhalb Jahre später ist der längst verstummte Dichter tot.
Philipp Theisohn: „Conrad Ferdinand Meyer. Schatten eines Jahrhunderts“. Wallstein, 543 S., 38 Euro.
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