Die Entscheidung, den diesjährigen Literaturnobelpreis dem ungarischen Schriftsteller László Krasznahorkai zuzusprechen, kann man nur als klassisch bezeichnen: Krasznahorkai schreibt für Leser, die komplexe Literatur lieben und darüber hinaus wissen, dass es einen Unterschied gibt zwischen komplex und kompliziert.
Er komme als Schriftsteller „von Tolstoi, Homer und Cervantes“, wetterte Peter Handke Journalisten entgegen, kurz nachdem ihm der Literaturnobelpreis des Jahres 2019 zuerkannt worden war. Krasznahorkai, den man sich mit seinem wasserblau melancholischen Blick allerdings schwer in ähnlich donnernder Alphaliteratenpose vorstellen kann, müsste sagen, er komme von Kafka.
An Kafka habe ihn schon in seiner Jugend dessen Gespür für Atmosphäre gefesselt, erzählte Krasznahorkai einmal in einem Interview, ohne ihn hätte er kaum mit dem Schreiben angefangen. Er habe es wieder und wieder versucht, mit der Zeit seien seine Sätze immer länger geworden, ungewöhnlich lang, ähnlich wie das Denken selbst, das ja auch ein endloser stürmischer Prozess sei und keine Punkte kenne.
Ein ureuropäischer Literat
Bei Amazon, das Krasznahorkai als ureuropäischer Literat von 71 Jahren vermutlich kalt verachtet, hieße es wohl: Kunden, die Krasznahorkai kauften, kauften auch W. G. Sebald, Thomas Bernhard, Péter Nádas und Imre Kertész. Krasznahorkai steht in der literarischen Tradition Mitteleuropas, so betonte es die Schwedische Akademie bei der Preisverkündung am Donnerstag, was bedeutet: Die Literatur eines Europa, das von Kriegszerfurchungen und unausgesprochenen Traumata, die auch nachdem der Eiserne Vorhang weggezogen war, nicht von der Bühne des Bewusstseins abtreten wollten, gezeichnet ist.
Krasznahorkai, 1954 im ungarischen Gyula geboren, studierte erst Jura, dann Literaturwissenschaften, 1987 brachte ihn ein Arbeitsstipendium nach West-Berlin. Mit seinen frühen Werken „Satanstango“ (1985, auf Deutsch 1990 erschienen) und „Melancholie des Widerstands“ (1989) galt er lange als düsterer Melancholiker und „Meister der Apokalypse“, wie ihn Susan Sontag nannte, was auch an dem Portfolio seltsam getriebener Einzelgänger lag, die in seinen Werken auftauchen: schillernde, zwielichtige Figuren, die lange verloren geglaubt sind, bis sie leuchtend in eine verödete Welt zurückkehren wie Benjamins Engel der Geschichte, ob es sich um einen Herzog mit drei Augen handelt oder einen betrunkenen Simultandolmetscher auf einem Autobahnkreuz bei Shanghai.
Imre Kertész, der im Jahr 2002 als erster Ungar den Literaturnobelpreis erhalten sollte, sagte über „Melancholie des Widerstands“: „Ich lese László Krasznahorkais Buch und stehe an einem Strudel. Nach kurzem Zögern stürze ich hinein – sofort erfasst er mich, reißt mich mit sich fort, lässt mich nicht mehr los. Ich spüre, es nicht mit diesem, einem bestimmten Buch zu tun zu haben, sondern mit dem Ganzen – wie immer bei großen Schriftstellern.“
Der natürliche Zustand der Welt
Auch in den späteren Erzählungen, gesammelt in „Die Welt voran“ (2013) ist der seltsam hypnotische Strom spürbar, der aus den Sedimenten eben der Geschichte und der unsicheren Verortung des Einzelnen in ihr zu kommen scheint. Krasznahorkais Erzähler finden sich oft als Geworfene wieder; nicht immer ist klar, wo sie hinwollen, am wenigsten ihnen selbst oder sie finden sich an menschenleeren, seltsam unbestimmten Orten wieder. In dieser literarischen Topografie ähnelt Krasznahorkai W. G. Sebald, in der Verbindung von Fantastischem und Realem, der Parabel an der Grenze zur Groteske auch an Jorge Luis Borges.
In den vergangenen Jahren allerdings zeigte sich noch einmal eine weitere Schicht der krasznahorkaischen Literatur. Lange sei er Autor eines melancholischen, resignativen Werkes gewesen, sagte er in einem Interview, aber als alter Mann wolle er über seine Ahnungen schreiben, ausgehend von der Erkenntnis: Das Chaos ist nicht der Endzustand, sondern der natürliche Zustand der Welt.
Einen ebensolchen Chaoszustand fängt Krasznahorkai in seinem für deutsche Leser vielleicht interessantesten Roman „Herscht 07769“ (2021) ein, der im Thüringen der Merkeljahre spielt und aus einem einzigen Satz, der über rund 400 Seiten reicht, besteht: Suada, Formexperiment, bitter komisch und verblüffenderweise elegant lesbar.
Er fühle sich den Wörtern ausgeliefert, den Sätzen, die in seinem Kopf in Millionen Versionen durchlaufen, sagte Krasznahorkai oft. Sein einziger Ehrgeiz sei es, wenigstens einen perfekten Satz zu schreiben: „Aber in meinem ganzen Leben endete dieser Traum immer nur in einem Fiasko.“ So einen Satz kann natürlich nur ein Melancholiker sagen. Gut, dass ihm die Schwedische Akademie das Gegenteil bewiesen hat.
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