Mit ganz viel Bühnennebel beginnt „The Amazing Adventures of Kavalier & Clay“, eine neue Oper, die zurzeit in New York zu besichtigen ist. Aus dem Bühnennebel taucht eine Brücke auf, wir befinden uns, eine Projektion verrät es, in Prag, und das Jahr ist 1939. Auf der Brücke steht ein Mann in einer Zwangsjacke; unten vor der Brücke ein weiblicher Teenager. Der Mann probt einen Entfesselungstrick: Er will in die Moldau springen und sich unter Wasser von der Zwangsjacke befreien. Die Sache geht beinahe schief; während er unter Wasser ist, erscheinen Nazisoldaten auf der Bühne und befragen den Teenager. Hier klingt die Musik, die Mason Bates geschrieben hat, ein bisschen atonal, später weht Swing herein, es gibt aber auch Teile, die ganz klassisch klingen, und in entscheidenden Momenten nimmt Bates Anleihen bei Melodien aus der jüdischen Liturgie.
Der Opernbesucher hatte jeden Grund, skeptisch zu sein. „The Amazing Adventures of Kavalier & Clay“ ist im Ursprung ein dicker Roman von Michael Chabon, der Jahrzehnte umspannt und mehrere hundert Seiten dick ist. Er handelt von zwei jüdischen Cousins, die sich in Brooklyn eine Comicfigur ausdenken, den „Escapist“, der Gefangene aus den Fängen der Tyrannei befreit. Sein Symbol: der golden leuchtende Schlüssel auf der Brust. Wie soll man daraus eine Oper machen? Und warum sollte man daraus eine Oper machen? Ist der Roman denn nicht schön genug? Aber beim Zuschauen und Zuhören in der Metropolitan-Opera verflogen die Zweifel innerhalb der ersten Viertelstunde.
Der Librettist Gene Scheer hat sich beschränkt, und er hat klug aus der Vorlage ausgesucht: Seine Oper umspannt wenige Jahre, etwa von 1939 bis 1944. Sie konzentriert sich auf nur eine Handvoll Charaktere: Josef Kavalier aus Prag (Andrej Filonczyk, Bariton); seinen gehbehinderten schwulen Cousin Sam Clay (Miles Mykkanen, Tenor); Rosa Saks, die irgendwann Kavaliers Freundin wird (Sun-Ly Pierce, Mezzosopran); Tracy Bacon, in den sich Sam Clay verliebt (Edward Nelson, Bariton); und Sarah Kavalier, die in Prag zurückbleibt (Lauren Snouffer, Sopran).
Vieles dreht sich in dem Roman darum, dass der „Escapist“ – der Superheld, den die jüdischen Cousins Kavalier und Clay erfinden – eine Kompensationsfigur ist. Der „Escapist“ ist schnell, Sam Clay humpelt; der „Escapist“ verteilt Kinnhaken an Nazis, die beiden sitzen in einer engen Bude in Brooklyn fest; der „Escapist“ scheint Wunder zu wirken, Josef Kavaliers Familie sitzt in der Tschechoslowakei fest. Die Oper von Gene Scheer und Mason Bates führt uns das ganz drastisch vor. Oft befinden wir uns gleichzeitig im finsteren, von den Deutschen besetzten Prag und im hellen Brooklyn. Die Comic-Abenteuer des „Escapist“ werden groß im Hintergrund projiziert.
In einer Szene tritt der Superheld sogar selbst auf der Bühne auf, den leuchtenden gelben Schlüssel auf der Brust, und befreit Kavaliers Eltern, die, wie wir kurz zuvor gesehen haben, den Nazis zum Opfer gefallen sind: die Mutter in die Lager deportiert, der Vater totgeschlagen. Das Bühnenbild, das vom „59 Studio“ gestaltet wurde, ist so prächtig, wie man das von der Metropolitan-Opera erwartet. Sehr intelligent werden dabei schwarze Vorhänge eingesetzt, die sich zugleich aus der Höhe und von der Seite her senken und einzelne bunte Bilder einrahmen, so die Comic-Kunst zitierend, um die es hier ja geht.
Die Oper hat zwei Akte und einen einfachen Spannungsbogen: Erst geht es steil in die Höhe, dann geht alles schief. Im ersten Akt sehen wir also, wie die zwei Cousins Erfolg haben, eine amerikanische Erfolgsgeschichte wie im Bilderbuch. Beide finden unterwegs die Liebe ihres Lebens. Josef Kavalier wird reich und kann vielleicht zumindest seine Schwester Sarah aus der Hölle namens Europa herausholen. Aber dann torpediert ein deutsches U-Boot das Schiff, mit dem Sarah und hunderte andere jüdische Kinder den Nazis entkommen wollten; alle ertrinken, niemand wird gerettet. Im zweiten Akt hat Josef Kavalier den Verstand verloren und meldet sich zur Armee. Tracy Bacon, Sams Freund, geht ebenfalls zu den Soldaten.
Sam Clay selbst fällt auf einer Feier von schwulen Matrosen einer FBI-Razzia zum Opfer. Und in zwei Szenen stockt dem Opernbesucher das Herz, sofern er noch über ein solches verfügt. Da sehen wir schemenhaft die vielen Juden, die von den Nazis umgebracht wurden; manche von ihnen tragen gelbe Sterne auf dem Mantel, und sie singen. Sie singen den 13. Glaubenssatz des jüdischen Gelehrten Maimonides, der zu einem Lied wurde, das damals tatsächlich in den KZs und Viehwaggons gesungen wurde: Ani ma’amin be’emuna schelema … „Ich glaube mit vollkommener Zuversicht an das Kommen des Messias, und auch, wenn seine Ankunft sich verzögert, warte ich doch täglich, dass er kommt.“ Gänsehaut.
Die Regie führte in New York Bartlett Scher, das Orchester wurde von dem Frankokanadier Yannick Nézet-Séguin dirigiert. Oper verwandelt sich in New York unter Leitung dieser beiden Männer wieder in das, was sie ihrem Wesen nach sein sollte: Überwältigungskunst, emotionale Urgewalt. Am Ende beschlichen den Zuschauer allerdings doch noch einmal ganz kurz Zweifel: Da schwebte von links oben ein rettender Engel herab, Joseph Kavaliers tote Schwester mit durchsichtigen Flügeln, und heilte sein zerbrochenes und verwirrtes Herz. Kitsch? Nein, Oper; just solche Übertreibungen erwarten wir von dieser Kunstform. Außerdem handelt es sich um eine Szene, die wir in einem Superhelden-Comic erwarten dürften. Wo sonst als hier sollte ein Engel vom Schnürboden schweben?
Dass das Ganze hochpolitisch ist, versteht sich eigentlich von selbst. Es geht um Einwanderer, Krieg, um grausame Obrigkeiten, ums die Frage, ob Kunst in der realen Welt etwas bewirkt: Amerika sei die Heimat aller Verzweifelten, heißt es im Libretto an einer Stelle, die Küste, an die alle ausweglos Verfolgten fliehen können. Kam es nur dem Opernbesucher so vor, oder hat an dieser Stelle im Hintergrund ein großer goldener Schlüssel geleuchtet? Die Oper „The Amazing Adventures of Kavalier & Clay“ erinnert an ein Amerika, das noch gegen den Faschismus gekämpft und Menschen befreit hat.
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