Simon Meier-Vieracker ist seit 2020 Professor für angewandte Linguistik an der Universität Dresden. Sein Spezialgebiet sind automatisierte digitale Methoden der Textanalyse. Bekannt ist er durch den Tiktok-Kanal „Fußballlinguist“ und den Podcast „Phrasendrescher“, in denen er sich mit der Sprache der Sportberichterstattung beschäftigt. Sein Buch „Sprache ist, was du draus machst!“ erschien 2024.
WELT: Gendern ist ein aufwühlendes Dauerthema, wenn wir über Sprache sprechen. Was glauben Sie: Ist Gendern nur ein Trend, der umgekehrt werden kann, oder wird es sich durchsetzen?
Simon Meier-Vieracker: Es ist zu früh, das abzuschätzen. Ich halte es für möglich, dass das Ganze wieder zurückgehen wird. Dass man in wenigen Jahren den Gender-Stern als noch störender empfindet als man ihn heute schon in vielen Teilen der Bevölkerung empfindet. Vielleicht kommt es aber auch zu einer Art Koexistenz. Alles ist möglich. Es gibt ja einen ähnlichen Fall aus den Achtzigerjahren, als versucht wurde, die Großschreibung abzuschaffen. Fachzeitschriften erschienen damals durchgängig nur in Kleinschreibung, weil man davon ausging, dass dies die Zukunft sei. Das hat sich letztendlich dann doch nicht durchgesetzt. Und es könnte sein, dass das mit dem Gendern genauso sein wird. Was ich nicht glaube, ist, dass das generische Maskulinum, wie wir es kannten, zurückkehren wird. Ich denke, da ist ein Bewusstsein dafür da, dass das ein Ungleichgewicht schafft.
WELT: Aber werden wir wieder zu einem sprachlichen Konsens zusammenfinden? Oder wird es eher zu einer sprachlichen Entfremdung zwischen verschiedenen Gesellschaftsgruppen kommen?
Meier-Vieracker: Ich glaube, dass es oft nur an der Oberfläche um Sprache geht. Dass es sich eigentlich um einen Kulturkampf handelt, der auf dem Stellvertreter-Schlachtfeld der Sprache ausgetragen wird: Sind wir bereit Geschlechtervielfalt anzuerkennen und damit auch eine Umkehrung traditioneller Geschlechterverhältnisse, traditioneller Familienvorstellungen? Oder wollen wir diese Gruppen eher marginalisiert halten, wie es in den letzten Jahrzehnten der Fall war? Das sind die grundlegenderen Fragen, die der ganzen Diskussion erst das Feuer geben.
WELT: Und es ist eine Menge Feuer in dem Thema. Ist Sprache heute mehr denn je umstritten?
Meier-Vieracker: Ich glaube, dieser Eindruck ist falsch. Man neigt immer dazu, die eigene Zeit als besonders wild, besonders revolutionär zu empfinden. Dabei gab es schon in den Achtzigerjahren genauso viel Bewegung, was geschlechtergerechte Sprache angeht. Damals wurden etwa die Beidnennung und das Binnen-I eingeführt, was für ähnliches Entsetzen gesorgt hat wie heute der Genderstern. Oder wenn wir zurück in die Nachkriegszeit schauen, als es massive Migrationsbewegungen im deutschsprachigen Raums gab mit Auswirkungen auf die Sprache. Vergessen dürfen wir zudem nicht: Mit dem Einzug des Fernsehens stieg auch die Alltagsrelevanz des Standarddeutschen, des Hochdeutschen. Es hat also immer Ereignisse, gesellschaftliche und technische Entwicklungen gegeben, die ganz massiv die Sprache verändert haben.
WELT: Hochdeutsch wurde durch Fernsehen relevant?
Meier-Vieracker: Ja. Hochdeutsch wurde früher nur in ganz bestimmten Kommunikationssituationen verwendet. In der Schule zum Beispiel. Und natürlich beim Schreiben. Aber ansonsten war die mündliche Kommunikation vor allem dialektal.
WELT: Aber es war doch bestimmt nicht nur das Fernsehen?
Meier-Vieracker: Nein. Es gibt die sogenannte Theorie über das soziale Kräftefeld der Standardsprache. Rein sprachwissenschaftlich existiert eigentlich kein Unterschied zwischen Dialekten und Hochdeutsch. Es handelt sich lediglich um unterschiedliche Ausprägungen des Deutschen. Sie alle folgen bestimmten Regeln, nur eben unterschiedlichen. Dennoch würde niemand bestreiten, dass das Hochdeutsche einen besonderen Status besitzt, weil es mehr Prestige hat, weil es verbindlich ist und weil es reguliert ist. Das bedeutet, dass wir wirklich nachlesen können: Was sind die Regeln und was richtig und was falsch? Damit eine Ausprägung des Deutschen genau diesen Status erlangt, muss eine Menge zusammenkommen. Es braucht Institutionen wie Schulen zum Beispiel. Es braucht Forschungsinstitute, die die Regeln erforschen und beschreiben. Und dann gibt es die sogenannten Modellsprecher. Also Personen, von denen man erwartet, dass sie besonders vorbildlich sprechen. Im Alltagsmythos der Deutschen sind etwa Tagesschau-Sprecher der Inbegriff der Modellsprecher. All das hat zur Ausprägung des Hochdeutschen wie wir es kennen beigetragen.
WELT: Wobei es ja so scheint, als würden Dialekte gerade eine Art Renaissance feiern. Gibt es eine Rückbesinnung?
Meier-Vieracker: Ja, die gibt es. Ein Beispiel: Wenn man in München in der S-Bahn fährt, kommen ja diese Stationsdurchsagen: Nächster Halt, Stachus, Marienplatz und so weiter. Diese Stimme hat einen leicht bairischen Einschlag. Ein Münchner Stadt-Bairisch. Das war 2010, dass man das wiedereingeführt hat. Und das war eine bewusste Entscheidung, dass die Stadt gesagt hat, wir möchten in diesem Kontext einen Lokalkolorit. Das wäre vor 20 oder 30 Jahren undenkbar gewesen.
WELT: Warum triggern uns Diskussionen um Sprache so sehr?
Meier-Vieracker: Das ist ein sehr bundesdeutsches Phänomen. Deutsch wird ja auch in anderen Ländern Europas gesprochen, vor allem in Österreich und der Schweiz, aber auch in Belgien und Dänemark gibt es deutschsprachige Minderheiten. Dort gibt es aber eine viel größere Bereitschaft zu Variation. Gerade in Deutschland haben wir diesen Fetisch des einen korrekten Deutsch. Ich persönlich denke, dass das auch mit dem ganzen Schmerz zu tun hat, den wir in der Schule erlebt haben. Es ist ja mühsam und geradezu schmerzhaft, die Regeln unserer Sprache alle zu lernen. Und dieser Schmerz hat uns vielleicht ein Stück weit verhärmt.
WELT: Ist Weiterentwicklung von Sprache ein Top-down-Verfahren oder ist es die Sprache, die sich verändert, und die Institutionen passen sich an?
Meier-Vieracker: Es ist in größerem Maße ein Top-Down-Verfahren, als man denken würde. Natürlich ist es letztendlich ein Wechselspiel. Gelehrte und Menschen mit sprachpolitischer Entscheidungsmacht in Ministerien und Kommissionen haben über Regeln zwar entschieden, aber nicht im luftleeren Raum. Sie haben beobachtet, welche Varianten es gibt und welche Regeln sich definieren lassen. Aber dann haben sie am Ende etwas Verbindliches festgelegt, teilweise mit relativ willkürlichen Entscheidungen. Der Unterschied zwischen Norddeutsch und Süddeutsch in der Aussprache, aber auch in der Grammatik ist so zu erklären. Da die Personen in den Schlüsselpositionen aus dem Norden kamen, entschieden sie sich oft für die norddeutschen Varianten. Das waren mehr oder weniger willkürliche Festlegungen. Das Standarddeutsche, das wir heute kennen, ist letztlich das Ergebnis einer bewussten sprachpolitischen Durchsetzung.
WELT: Und es gibt etwas, das es bisher noch nicht gab, nämlich eine neue Kommunikation, die über Online- und soziale Medien stattfindet. Dafür gibt es in der Menschheitsgeschichte keine Vorlage. Was bedeutet das für die Sprache?
Meier-Vieracker: Wir finden in den sozialen Medien einen Relevanzverlust von etablierten Regeln der Schriftsprache. Es ist in den WhatsApp-Chats nicht wichtig, Rechtschreibung und Zeichensetzung korrekt zu verwenden. Es kommt vor allem auf Geschwindigkeit an. Und wir haben Emojis, für die es kein echtes historisches Vorbild gibt. Was wirklich neu ist: Historisch gesehen hatten wir die Einteilung, dass mündliche Sprache synchron, also in Echtzeit verwendet, wird und dass wir, wenn wir Worte für die langfristige Konservierung oder zur Überbrückung großer Entfernungen transportieren wollen, auf Schrift zurückgreifen. Jetzt schreiben und lesen wir in Quasi-Echtzeit, wie wir früher nur gehört und gesprochen haben. Das stellt Sprache vor neue Herausforderungen.
Unklar ist, welche langfristigen Konsequenzen dies für die Sprache hat. Es gibt die pessimistische oder, ich würde sagen, überängstliche Position, die sagt, wir verlernen alle Deutsch. Niemand wisse bald mehr, wie das Setzen von Kommata etwa funktioniert. Orthografie spiele bald keine Rolle mehr. Die abwägende Position, die ich vertrete, ist: Wir haben einen neuen Bereich online, den sich Sprache erobert, aber der klassische Bereich der Sprache bleibt davon eher unbetroffen.
WELT: Ist das gut oder schlecht? Ist das wirklich ein Ausdruck eines Sprachverlustes oder ist es nur eine Weiterentwicklung und dann etwas Neues?
Meier-Vieracker: Es gibt verwahrlostes Schreiben und Sprechen und das gibt es natürlich auch in Social Media. Dort beobachtet man manchmal wirklich einen Verlust zivilisierter Umgangsformen. Das ist bedauerlich. Doch obwohl es sicher verkommene Arten des Schreibens und Sprechens gibt, würde ich nicht so weit gehen zu sagen: Wegen Social Media verkommt die Sprache insgesamt. Denn die Frage ist: Vergleichen wir das Richtige miteinander? Wenn wir darüber nachdenken, was in früheren Zeiten durch schriftliche Kommunikation überliefert ist, dann waren das in den meisten Fällen Druckerzeugnisse von professionell handelnden und dafür ausgebildeten Menschen. Das können wir aber kaum vergleichen mit dem, was in den sozialen Medien passiert, wo auch Menschen ohne professionelle Ausbildung und mit ganz anderen Ansprüchen, schreiben. Denn heute wird alles dokumentiert und langfristig fixiert, auch das ganze Alltagsgebrabbel.
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