Dass einer nicht alle Tassen im Schrank hat, gehört zu den wohl alltäglichen Erfahrungen. Etwas ganz anderes ist es, wenn einer glaubwürdig versichert, Tasse und Untertasse beim Freiflug durch die Küche beobachtet zu haben. Dann, und nur dann, ist er ein Fall für die parapsychologische Beratungsstelle in Freiburg im Breisgau, wo Dr. Dr. Walter von Locadou einen umfassenden Service anbietet „für Menschen, die ungewöhnliche, okkulte oder unerklärliche Erfahrungen gemacht haben“. Eine andere Möglichkeit wäre: Er reist nach Basel, wo das ehrwürdige Kunstmuseum „den unergründlichen Wesen eine umfangreiche Sonderausstellung“ widmet

Dort sieht er zumindest, dass er mit dem Wundersamen nicht allein ist auf dieser geheimnisarmen Welt. Sieht, wie der „Fantasmino“ des Multimedia-Künstlers Tony Oursler durch die Augenlöcher seines weißen Lakens schielt. Sieht, wie der Performance-Künstler Mike Kelley die Augen verdreht und wie ihm aus Mund, Nase und Ohren weißlicher Schleim quillt, den die zuständige Therapie „Ektoplasma“ nennt.

Und steht vor der weiß angestrichenen, total zerfetzten Gartenhütte der Bildhauerin Rachel Whiteread, die nach eigenen Angaben ein blindwütiger „Poltergeist“ so übel zugerichtet hat. Spätestens vor den Fototafeln, die das unbescholtene Ehepaar Anna und Johannes Blume als Zeugen beim wilden Aufstand der Küchenutensilien zeigen, fühlt er sich mit seinen eigenen Wundern doch etwas geborgener in der spiritistischen Community, die offensichtlich von je her den Mitmenschen in seiner rationalen Weltbewältigung aufgeschreckt hat.

Schulweisheiten zwischen Himmel und Erde

Schon „Hamlet“, frühes 17. Jahrhundert, erhält ja vom umtriebigen Geist des toten Vaters den Auftrag, den Vatermörder zu morden. Und ohne Geister, Hexen, Elfen, Feen und teuflische Gespenster hat Shakespeare kaum einmal die Bühne betreten. Weshalb er den Dänenprinz (1. Akt, 5. Szene) auch zutreffend bilanzieren lässt: „Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt.“

Dabei ist es ja doch so, dass die Schulweisheitsüberbietung sich gerne periodisch zwischen Himmel und Erde drängt. Es gibt ausgesprochene Spuk-Konjunkturen, Geister-Invasionen, signifikante Häufungen der Tassen- und Untertassenflüge in Tateinheit mit gutartigen Opfern, die der Jargon „Medium“ nennt und die durch Zwiesprache mit Toten, Lichtbögen zwischen den Händen, aber vor allem durch ihren ektoplasmatischen Auswurf aufzufallen pflegen. Besonders auffällig im späten 19. Jahrhundert, als die sogenannte „Hysterie“ zur bevorzugt weiblichen Volkskrankheit wurde und sich die viral verbreitenden Geistwesen bevorzugt weibliche Opfer aussuchten, die von Ärzten beim Tischerücken, Stühleschweben und anderen Alfanzereien protokolliert wurden.

Weil es damals schon die Kamera gab, sind die Sessions vielfach dokumentiert. Und ein ganzer Ausstellungsraum in Basel ist gespickt mit ihnen. Da schaut man in Oma-Gesichter, die so freundlich verklärt lächeln wie der 15-jährige Carlo Acutis, den gerade der Papst nach zwei Wunderheilungen heiliggesprochen hat.

Besonders interessant ist ein Schriftstück von Thomas Mann, der offenkundig 1924 einer okkultistischen Sitzung beiwohnte, die der Mediziner und Parapsychologe Albert von Schrenck-Notzing gleichsam veranstaltete. Alle sitzen erwartungsvoll im Kreis, und das diesmal männliche Medium, Willi S., fällt in Trance. Wunderbar, wie der Erzähler erzählt. Gar nichts geschieht. Doch dann: Das Taschentuch am Boden erhebt sich vor aller Augen. „Das war nicht möglich – aber es geschah. Der Blitz soll mich treffen, wenn ich lüge“, notiert Thomas Mann. Als mache er sich Notizen für seinen zauberhaften Lügenroman „Felix Krull“, den er dreißig Jahre später schreiben wird.

Und klar werden die Weltverhältnisse

Natürlich lässt sich nachdenken, warum sich heute kaum noch Taschentücher vom Boden erheben und warum ausgerechnet die beginnende Moderne so anfällig für das Übersinnliche werden sollte. Dass Shakespeares Macbeth sich das fatale Lebensschicksal erst einmal von drei Hexen weissagen lässt, wird keinen der Zuschauer im Londoner Globe Theatre überrascht, gar befremdet haben. Obwohl ihr Zeitgenosse, der Philosoph und Staatsmann Francis Bacon, allen schriftstellerischen Ehrgeiz darauf verwandte, die Welterklärung endlich mit nachprüfbarer Vernunft zu versöhnen. Und vielleicht besteht ja ein intimer Zusammenhang zwischen forcierter Rationalität und forcierter Spiritualität. Vielleicht bedingt das eine das andere. Vielleicht wird diese rätselhafte, nicht wirklich erfahrbare Welt gerade dann erschlossen, wenn die Weltverhältnisse immer klarer, durchsichtiger vor Augen liegen.

In einer Zeit, in der wir dank der digitalen Urbarmachung aller Lebensabläufe in der Schleife logischer Ketten und erwartbarer Ergebnisse kreisen, kann es eigentlich nicht verwundern, dass die unsterbliche Sehnsucht nach dem Unerklärten und letztlich Unerklärlichen wieder Nahrung bekommt. „Noch einmal“, schreibt Thomas Mann aus dem Zeugenstand, „möchte ich gereckten Halses, die Magennerven angerührt von Absurdität, das Unmögliche sehen, das dennoch geschieht.“

Die Baseler Ausstellung meidet allzu viel Nachdenklichkeit. Ohne erkennbare Systematik versammelt sie ihr kurioses Material und macht auch keinen kategorialen Unterschied zwischen dem um Ernsthaftigkeit bemühten Belegmaterial und Spöttern wie Mike Kelley oder Sigmar Polke, die dem ektoplasmatischen Wahnsinn gleichsam den Wahn austreiben. Auch wird nicht recht ersichtlich, wie die Ausstellung ins Kunstmuseum geraten ist.

Von Kunst nämlich ist in keinem der neun Räume die Rede. Und zum eindrücklichen Kunsterlebnis wird man die vereinzelten Zeichnungen und Grafiken von William Blake, Eugène Delacroix oder Odilon Redon so wenig rechnen wollen wie die Spielzeug-Geister von Paul Klee. Sagen wir es so, es fehlt der Baseler Spiritisten-Versammlung ein wenig an Spirit.

Will man das Niveau der Ausstellung zutreffend beschreiben, verweilt man am besten vor dem „gesprungenen Messer aus dem Besitz C.G. Jungs“. Es soll „unter unerklärlichen Umständen“ in vier Teile zerfallen sein - und zwar ausgerechnet im Esszimmer, was den Kasus noch problematischer macht. Dass der Psychoanalytiker (Promotion über „Psychologie und Pathologie okkulter Phänomene“) den groben Unfug seiner Séance-tauglichen Cousine anrechnete, hat den Messerüberresten nun eine eigene Vitrine im Geister-Rondo beschert.

Statt Messerschnipsel hätte ein bisschen mehr Poesie die Stimmung nicht getrübt. Victor Hugo zum Beispiel haben sie ganz vergessen. Jersey, Frühjahr 1851. Es ist Abend, die Uhr schlägt zehn. Man sitzt zusammen, Madame Hugo, Sohn Charles, Jules Allix, der Freund des Hauses. Jetzt wackelt der Tisch. Jetzt ist es, als reckte er seine Glieder. Und die Kerze flackert. Das Wachs tropft. Die Flamme erlischt. Und der Geist sagt: „Ich weine, und die Sterne trocknen meine Tränen. Ich weine in die Maske des Tages, ich weine in den Abgrund Gottes, ich weine in das große, dunkle Fass, welches die Danaiden der Unendlichkeit mit Sternen durchlöchert haben.“ Madame Hugo nimmt die Hände vom zitternden Tisch. Es ist allerschönste Victor-Hugo-Prosa, was sie heute Abend gehört haben.

So stellen wir uns die Geister vor. Weniger Gewalt am Messer. Mehr Sprach- und Sprechkunst aus dem Off.

„Geister. Dem Übernatürlichen auf der Spur“, bis 8. März 2026, Kunstmuseum Basel

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