Es gab nicht nur das „Neue Deutschland“ in der DDR. In jedem der 15 Bezirke wurde eine eigene Tageszeitung zugestellt und an den Kiosken verkauft. „Volkswacht“ in Gera, „Freies Wort“ in Suhl, „Das Volk“ in Erfurt, „Freie Presse“ in Karl-Marx-Stadt, „Leipziger Volkszeitung“ in Leipzig, „Sächsische Zeitung“ in Dresden, „Lausitzer Rundschau“ in Cottbus, „Freiheit“ in Halle, „Volksstimme“ im Magdeburg, „Märkische Volksstimme“ in Potsdam, „Neuer Tag“ in Frankfurt, „Freie Erde“ in Neubrandenburg, „Schweriner Volkszeitung“ in Schwerin, „Ostseezeitung“ in Rostock – und „Berliner Zeitung“ in Berlin.
Und das waren nur die Lokalzeitungen der Partei, die immer recht hatte, die Zeitungen der SED. Die anderen Parteien druckten ebenfalls in den Bezirken neben ihren überregional erscheinenden Verlautbarungsorganen. In der DDR rauschte der Blätterwald. Aber nicht herbstlich bunt, sondern im Gleichklang. Dass alle die Blätter lasen, lag in den Gewohnheiten eines eifrigen Lesevolks. Man las zwischen den Zeilen und hinter dem hölzernen Parteideutsch. Man las, was auch die Partei nicht kontrollieren konnte, wenn der BFC Dynamo, der Fußballverein der Stasi, trotz des linientreuen Schiedsrichters, einmal verloren hatte. Man las das Lokale.
1990, mit der deutschen Einheit, wurden die Bezirke aufgelöst und zu fünf neuen Bundesländern. Zeitungen verschwanden, wurden umbenannt oder behielten ihre Namen. Westdeutsche Verlage übernahmen ihre Journalisten, ihre Immobilien, ihre Leser und die Leitung der Geschäfte und der Redaktionen. Die „Berliner Zeitung“ blieb „Berliner Zeitung“ unter neuen Chefs, die Großes mit ihr vorhatten als Traditionszeitung der neuen Hauptstadt im aufblühenden Osten. Sie sollte nicht weniger werden als eine deutsche „Washington Post“. Allerdings tat sie sich schon schwer mit dem Spagat zwischen den alten Ostlesern und neuen Westlesern im Osten von Berlin.
Seit sechs Jahren übt sie das Kunststück neu. Der Ost-Berliner Software-Unternehmer Holger Friedrich übernahm 2019 den Verlag und baute die „Berliner Zeitung“ um zu einer Oststimme gegen das Medien- und Meinungsmonopol des Westens. Jetzt plant er, wie er es nennt, die große „Osterweiterung“. Bezirkszeitungen für Suhl, Gera und Erfurt (Thüringen), Karl-Marx-Stadt/Chemnitz, Leipzig und Dresden (Sachsen), Magdeburg und Halle (Sachsen-Anhalt), Cottbus, Potsdam und Frankfurt/Oder (Brandenburg), Neubrandenburg, Schwerin und Rostock (Mecklenburg-Vorpommern).
Friedrich hat sich die Markenrechte an den Internetadressen aller ehemaligen Bezirks- und aktueller Landeshauptstädte gesichert, von neubrandenburgerzeitung.com bis leipzigerzeitung.com. Bisher gibt es nur eine Homepage für ein „Projekt Halle by Berliner Verlag“, für „Unabhängige Zeitungen für den Osten“: „Wir setzen der Konzentration medialer Macht in den Händen weniger Westverlage etwas Eigenes entgegen: eine ostdeutsche Stimme im medialen Kanon Deutschlands, die erstmalig seit der Wiedervereinigung die kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Besonderheiten des Ostens nicht nur berücksichtigt, sondern prominent platziert.“
Warum das Projekt Halle heißt, wird nicht erklärt. Die alte Salz- und Händelstadt in Sachsen-Anhalt an der Saale lag im Schnittpunkt des Chemiedreiecks zwischen Leuna, Buna und Bitterfeld. Ohne Chemie wäre die DDR spätestens in den 1970er-Jahren gescheitert. Ohne Plaste und Elaste und ohne Parolen wie „Chemie gibt Brot – Wohlstand – Schönheit“. Wie auch immer: Das Projekt ist nach der Stadt benannt, in der die Tageszeitung früher „Freiheit“ hieß und heute „Mitteldeutsche Zeitung“ heißt.
In der „Berliner Zeitung“ erklärt Holger Friedrich dazu in einem Essay: „Auch hat die systematische Abwertung ostdeutscher Perspektiven trotz hehrer Worte des Bundespräsidenten Steinmeier, der diversen Ostbeauftragt:innen und des Baustarts eines Wiedervereinigungstempels in Halle keine Milderung erfahren. Süddeutsche, FAZ und Spiegel sind auch heute nicht in der Lage, in ihren Redaktionen soziologische, wirtschaftliche und kulturelle Differenzen im Osten Deutschlands aufzugreifen und angemessen zu berücksichtigen.“
Da hat Friedrich nicht unrecht. „Süddeutsche“ und „FAZ“ lassen den Osten eher rechts liegen. Im „Spiegel“ werden die Ostdeutschen in ihrem „Dunkeldeutschland“ als Problemvolk abgehandelt, während sich kauzige Kolumnisten aus dem Osten an eine komische DDR erinnern. Und der „Zeit“ liegt für die ewig neuen Länder eine Beilage, die „Zeit im Osten“, bei, damit die Leser drüben auch was Eigenes haben.
Daran hat sich seit 2019, seit sich Friedrich mit der „Berliner Zeitung“ für den Osten starkmacht, nichts geändert. Er fragt sich, ob sie gescheitert seien mit ihrer Mission und ihrem Blatt und gibt sich selbst die Antwort: keineswegs! Mut, Renitenz und bürgerlicher Stolz würden im Osten immer stärker und damit der Wunsch, darüber auch zu lesen. Dresdener Bürger hätten regelrecht darum gebeten, die „Berliner Zeitung“ auch auf Sachsen auszuweiten.
Friedrich: „Das Projekt ‚Halle‘ ist der Versuch, der herabsetzenden Sicht auf Ostdeutschland in der Medienelite (alles Nazis oder Kommunisten, pfui!), der wachsenden Selbstbedienungsmentalität in politischen Strukturen (die Grüne Annalena Baerbock in New York) und dem Unvermögen der Politik, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, ein unabhängiges, selbstbestimmtes Medium als Plattform für demokratische Meinungs- und Willensbildung entgegenzustellen. Als loyale Opposition, die den Mächtigen in Politik und Medien auf die Finger schaut, die Themen setzt und den Diskurs fördert, statt neue (Brand-)Mauern aufzubauen – was häufig nur geschieht, um persönliche Vorteile zu sichern.“
Unter der Überschrift „Die Osterweiterung des Berliner Verlages“ steht viel über Weltoffenheit, Diskursfreiheit und 360-Grad-Berichterstattung. Da steht aber auch: Man rechne aus Erfahrung mit Anfeindungen und Angriffen westlicher Pressehäuser. Friedrich nimmt es nicht nur mit der Konkurrenz auf, mit Madsack und Funke, die den Markt für Regionalzeitungen auch im Osten weitgehend beherrschen. Es geht gegen etwas Mächtigeres als ein paar Verlagshäuser, die in der ostdeutschen Provinz nur ein Geschäftsfeld sehen.
Es geht um eine aus Zeitungen gebaute Wagenburg gegen „den Westen“ wie „der Osten“ ihn sich vorzustellen hat. Friedrich bringt auch die „Weltbühne“ ins Spiel, das legendäre rote Heft, begründet 1905 von Siegfried Jacobsohn, das er seit einem halben Jahr wieder verlegt. Das „Projekt Halle“ sei die Konsequenz daraus, wie bereits Erich Kästner als Autor der „Weltbühne“ geschrieben habe: „Auch aus Steinen, die dir in den Weg gelegt werden, kannst du etwas Schönes bauen.“
In der aktuellen Ausgabe der „Weltbühne“ schlägt die „Berliner Zeitung“ gegen einen ihrer strengsten Kritiker zurück. Ilko-Sascha Kowalczuk, ein Historiker aus Ost-Berlin, nennt sie „Berlinskaja Prawda“ – wegen ihrer russlandfreundlichen Agenda, ihrer Anschlussfähigkeit für Positionen zum Autoritären neigender Parteien sowie Friedrichs Akte als IM der Stasi. Der Autor der „Weltbühne“ beruft sich auf das Urteil eines Freunds über Kowalczuk: „Er tue sich besonders dadurch hervor, erklärt mir mein Freund, dass er den Westdeutschen zuverlässig das Liedchen trällere, das sie über die Ostdeutschen hören wollen. Nämlich das des unzivilisierten, störrischen Hinterwäldlers, dem man die Sache mit der Demokratie und der Freiheit noch beizubringen habe.“ Noch ein Feind, ein innerer: der Ostdeutsche als Nestbeschmutzer.
Das „Manager Magazin“ zitiert Friedrich zum „Projekt Halle“: „Wir haben Meinungsfreiheit in Deutschland, aber sehr enge Meinungskorridore. Die will ich weiten.“ So beliebt die Meinungskorridore als Metapher sind, so schief sind sie, wenn jeder überall und öffentlich beklagen kann, wie schmal sie seien. Manches, was vor dreißig Jahren noch unsagbar schien, rechts- und linksaußen, ist heute salonfähig. Die Meinungskorridore werden da eher weiter. Aber es geht ja um mehr als um ein gutes Dutzend neuer Medien für den deutschen Osten. Es ist ein Projekt.
Die Macher der „Berliner Zeitung“ und der „Weltbühne“ hätten entschieden, erklärt Friedrich in seinem Essay, „die Therapie nicht abzusetzen, sondern die Dosis zu erhöhen“, um den Osten wieder aufzurichten. In den Landeshauptstädten, den abgehängten DDR-Bezirksstädten, im ganzen Land, das 1990 angegliedert wurde. Alle Zeitungen sollen im Titel der Schrift der „Berliner Zeitung“ folgen, in Fraktur mit Wappen. In Berlin werden die Themen für das Weltgeschehen und die Deutschlandpolitik gesetzt, um das Lokale zu ummänteln, von Bad Brambach bis zum Kap Arkona.
Friedrich verspricht dem Osten eine Art duales Redaktionssystem aus Automatenjournalismus mittels Künstlicher Intelligenz und Bürgerreportern vor Ort mit Laienjournalisten über „Open Source“ und „Open Table“. Er soll sogar in Erwägung ziehen, alles als „Ostdeutsche Allgemeine“ zu veräußern oder über „Volksaktien“, die Friedrich im „Manager Magazin“ in Aussicht stellt, zu vergesellschaften. Vom Ich zum Wir. Zurück zum Volk, das schon die „Volkszeitung“, die „Volkswacht“ und die „Volksstimme“ im Titel trugen.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke