Steven Pinker, 1954 in Kanada geboren, lehrt als Psychologe, Linguist und Kognitionsforscher an der Harvard University. Berühmt wurde er zunächst mit Büchern über den Sprachinstinkt, den er für ein Produkt der Evolution hält, und mit seiner These, dass der Glaube, der Mensch werde als unbeschriebenes Blatt ohne angeborene Eigenschaften geboren, totalitär sei.
2010 erschien Steven Pinkers umstrittenes Buch „Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit“, das auf der These beruht, die Gewalt habe in der Menschheitsgeschichte im großen Ganzen immer weiter abgenommen. 2018 erschien „Aufklärung jetzt“, eine Streitschrift gegen religiösen Fundamentalismus, Political Correctness und die postmoderne Philosophie. In „Wenn alle wissen, dass alle wissen …“, seinem neuen Buch, kehrt Steven Pinker nun gewissermaßen zu seinen Wurzeln zurück: Es geht es um Probleme der Sprache.
WELT: Was ist gemeinsames Wissen und warum ist es wichtig?
Steven Pinker: Gemeinsames Wissen ermöglicht Kooperation. Es ist die Basis unserer sozialen Beziehungen, Freundschaften oder romantischen Beziehungen, aber auch die Basis sozialer Koordination: dass wir auf der rechten Straßenseite fahren statt auf der linken, dass wir Papiergeld akzeptieren. Gemeinsames Wissen ist das Fundament von Regierungen, Unternehmen, gemeinnützigen Einrichtungen.
WELT: Sie erwähnen in Ihrem Buch ein Spiel namens „Rendezvous“. Dabei versuchen zwei Menschen, sich zum Kaffeetrinken zu verabreden. Es scheint, dass wir alle unaufhörlich damit beschäftigt sind, dieses Spiel zu spielen. Wieso?
Pinker: Es gibt viele Beispiele im Leben, wo es nicht darauf ankommt, was wir tun, solange der eine tut, was auch der andere tut. Wir können uns entweder bei Starbucks verabreden oder bei Peet’s. Vielleicht gebe ich Starbucks den Vorzug und Sie Peet’s – darauf kommt es gar nicht an, solange wir beide den Wunsch haben, zusammen im selben Café zu sitzen. Im Spiel „Rendezvous“ gewinnt jeder, wir brauchen aber gemeinsames Wissen, um in dasselbe Café zu gehen.
WELT: Nun ist das ganz einfach, wenn wir beide unser Smartphone dabeihaben. Was, wenn das nicht der Fall ist?
Pinker: Sprache ist ein Instrument, um gemeinsames Wissen herzustellen. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum sie sich evolutionär entwickelt hat. Ohne Sprache benötigen wir Brennpunkte: Stellen wir uns ein Liebespaar vor, das getrennt wurde. Wo treffen die beiden sich wieder? Vielleicht unter der Uhr in der Wandelhalle der Grand Central Station, auch wenn das gar nicht der Ort war, wo sie einander verloren haben. Gesellschaftliche Konventionen sind solche Brennpunkte.
WELT: Warum muss eine Gastgeberin dreimal mit dem Löffel ein Glas zum Klingen bringen, ehe Mitglieder einer Abendgesellschaft den Spinat zwischen ihren Zähnen entfernen?
Pinker: Dies wurde das schwerste Logikrätsel der Welt genannt. Folgende Situation: Ein paar Leute haben Spinat zwischen den Zähnen, andere nicht. Die Leute ohne Spinat wollen ihre Zähne nicht reinigen, und alle sind zu höflich, um andere auf den Spinat zwischen ihren Zähnen hinzuweisen. Spiegel gibt es nicht. Stellen wir uns nun vor, drei Leute haben Spinat zwischen den Zähnen. Die Gastgeberin sagt: Mindestens ein Mensch hier hat Spinat zwischen den Zähnen. Wenn ich mit dem Löffel ans Glas schlage, sollten Sie ihn entfernen. Sie klingelt einmal – nichts. Sie klingelt zum zweiten Mal – niemand bewegt sich. Sie klingelt ein drittes Mal – alle drei greifen zum Zahnstocher. Wie konnten sie wissen, dass sie gemeint waren?
Stellen Sie sich den einfachsten Fall vor: Nur ein Mensch hat Spinat zwischen den Zähnen. Er schaut sich um, sieht, dass niemand sonst Spinat zwischen den Zähnen hat, und weiß, dass er gemeint sein muss. Bei zwei Leuten mit Spinatzähnen sieht man einen anderen Menschen mit unreinem Gebiss, weiß aber nicht, ob man nicht selber auch Spinat zwischen den Zähnen hat. Also reinigt sich keiner die Zähne. Aber wenn die Gastgeberin zum zweiten Mal mit dem Glas klingelt, weiß man: Der andere hat seine Zähne nicht gereinigt. Das kann nur bedeuten, dass er jemand anderen mit Spinat zwischen den Zähnen gesehen hat. Und dieser andere kann nur ich sein. Und so geht es immer weiter. Bei sieben Leuten mit Spinat zwischen den Zähnen muss die Gastgeberin siebenmal den Löffel ans Glas schlagen.
WELT: Was hat das mit der Cancel Culture an amerikanischen Unis zu tun?
Pinker: Es gibt eine indirekte Verbindung. Das Rätsel ist doch: Warum werden so viele Akademiker gefeuert oder zensiert, manchmal für ganz harmlose Bemerkungen? Theoretisch sollten wir sagen, Akademiker sollten Vermutungen über die Welt anstellen. Sie mögen damit Recht oder Unrecht haben, aber ihre Hypothesen können nicht böse sein. So denken wir aber nicht über Meinungen nach. Häufig betrachten wir Meinungen als Indikatoren des moralischen Werts oder Unwerts einer Person. Und wenn moralische Normen in der Öffentlichkeit gebrochen werden, spüren wir, dass sie wiederhergestellt werden müssen. Das kann nur durch öffentliche Bestrafung geschehen. Die sozialen Medien eignen sich hervorragend dafür.
WELT: Sie schlagen in Ihrem Buch ein Moratorium für bestimmte Forschungen vor, etwa für die Frage, ob die ethnische Herkunft eines Menschen etwas mit seiner Intelligenz zu tun haben könnte. Ist das nicht auch Cancel Culture?
Pinker: Nein, denn dabei wird niemand öffentlich bestraft. Es geht nur darum, dass es vielleicht eine stillschweigende Übereinkunft geben sollte, über gewisse Dinge keine Meinung zu haben, weder in dieser noch in jener Richtung.
WELT: Welche Rolle spielt gemeinsames Wissen bei der Verhütung oder beim Ausbruch von Kriegen?
Pinker: Überraschenderweise fanden Historiker heraus, dass es in Kriegen meistens nicht um Ressourcen, sondern um die Ehre geht. Putins Krieg gegen die Ukraine ist nur ein Beispiel dafür. Es ging ihm nicht um Rohstoffe, sondern darum, die Schmach zu tilgen, die durch den Zerfall der Sowjetunion entstand. Wenn man weiß, dass es sich bei den meisten Kriegen um Wettbewerbe im Weitpissen handelt, kann man sie verhindern, indem man dem potenziellen Kriegsgegner erlaubt, sein Gesicht zu wahren. Taiwan ist ein Beispiel dafür. De facto ist Taiwan ein souveräner Staat, aber die offizielle Position der Europäer und der Amerikaner ist, so zu tun, als würde Taiwan nicht existieren, als sei es nichts weiter als eine chinesische Provinz.
WELT: Wie kann kompletter Unsinn, etwa der sehr moderne Glaube, die Erde sei eine Scheibe oder die Idee, Impfstoffe seien schädlich, zu gemeinsamem Wissen werden?
Pinker: Ich würde nicht von gemeinsamem Wissen, eher von gemeinsamen Überzeugungen sprechen. Es ist nicht klar, dass Leute, die glauben, die Erde sei eine Scheibe, daran in demselben Sinne glauben, in dem sie davon ausgehen, dass sie zu Hause Milch im Kühlschrank haben. Überzeugungen sind Ausdruck von Identität, von gewissen Moralvorstellungen. Leute, die sagen, die Erde sei flach, bringen damit ihre Loyalität zu einem bestimmten Kollektiv zum Ausdruck, hier: dem fundamentalistischen Christentum.
Für Impfgegner gilt im Prinzip dasselbe. Leute, die glauben, das medizinische Establishment sei ein Unternehmen, das das Volk ausbeuten will und deshalb Impfungen ablehnen, bringen damit zum Ausdruck, dass sie für Naturheilkunde sind und im Widerspruch zu den Pharmakonzernen und zur Regierung stehen. All dies sind Formen des gemeinsamen Wissens, die eine Gemeinschaft begründen.
Oft eignen sich lachhafte und nicht widerlegbare Glaubensformen am besten, um eine Gemeinschaft zu stiften: Sie machen es möglich, zwischen wahrhaft Überzeugten und Opportunisten zu unterscheiden, jenen, die sich einer Gruppe nur der materiellen Vorteile wegen anschließen. Jeder kann einer Gruppe angehören, die behauptet, dass Steine, wenn man sie loslässt, zu Boden fallen. Dabei riskiert man seinen Ruf nicht. Aber wenn man behauptet, die Erde sei eine Scheibe oder Jesus sei von den Toten auferstanden, dann geht man ein Risiko ein.
WELT: Warum ist Heuchelei mitunter eine Tugend?
Pinker: Weil menschliche Beziehungen manchmal wichtiger sind als die Wahrheit. Wir haben vorhin schon ein Beispiel erwähnt: die diplomatische Nichtanerkennung von Taiwan. Hier benehmen wir uns wie Heuchler, wir sagen etwas, von dem wir wissen, dass es nicht wahr ist, aber auf lange Sicht ist das wahrscheinlich besser so. In persönlichen Beziehung kann es ebenso sein. Wenn in einer Liebesbeziehung der eine zum anderen sagt: „Ich fantasiere darüber, mit meinem Kollegen ins Bett zu gehen“, dann kann es so sein, dass der andere das schon längst vermutet. Schließlich sind wir alle nur Menschen. Das aber laut auszusprechen, würde die Liebesbeziehung vergiften. Denn Liebesbeziehungen basieren auf dem Verlangen nach exklusiver Monogamie.
Steven Pinker: „Wenn alle wissen, dass alle wissen …: Gemeinsames Wissen und sein verblüffender Einfluss auf Geld, Macht und das tägliche Leben“. Aus dem Englischen von Martina Wiese. S. Fischer, 406 S., 29 Euro.
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