Vor einigen Wochen erschien in der „New York Times“ ein Artikel, der das Verschwinden des „male novel readers“ zu ergründen versuchte. Es war nicht der erste Text über das Phänomen, dass immer weniger, sich im klassischen heteronormativen Weltbild verortende Männer Romane lesen und darüber, welche Ursachen und kulturelle Folgen dieses Nichtlesen hat.

Die nahezu logische Folge der Roman-Abstinenz männlicher Männer ist, dass – um beim handlichen Englischen zu bleiben – auch der „male novel writer“ ein verschwindendes Phänomen ist. Zumindest der Großschriftsteller der alten Art, der sich stolz in eine lange Reihe toter weißer Männer einreiht, die nicht mehr und nicht weniger beschreiben wollten als die komplette conditio humana ihrer Zeit. Es fällt vielleicht noch nicht so auf, aber es könnte sein, dass so unterschiedliche Autoren wie Michel Houellebecq und Karl Ove Knausgård die letzten Vertreter dieses Typus sind. Denn zum Schreiben kommt man durchs Lesen. Und wenn kein Mann mehr liest, wird auch keiner mehr Dostojewski und Kafka nacheifern wollen.

Insofern ist der erste Roman des bald 90 Jahre alten Woody Allen das Buch zur Stunde. Denn die Antagonisten von „What’s with Baum?“, das jetzt zunächst auf Englisch erscheint, sind zwei sehr unterschiedliche Autoren, die den Schriftstellerberuf noch als Männerfantasie betreiben. Und als Titanenkampf im Intellektuellenmilieu: Am Ende wird einer die Karriere des anderen zerstört haben.

Der eine, Asher Baum, ist älter. Er hat – wie der typische, vor allem amerikanische Autoren-Fürst des 20. Jahrhunderts – als Journalist angefangen und dann mit dem Schreiben von Romanen begonnen, weil ihm die Reportage und die Literaturkritik keine geeigneten Genres zu sein schienen, um ewige Wahrheiten zu verkünden und wirklich etwas in der Seele der Leser zu bewegen. In den Zwiegesprächen, die Baum – nun hoch in den Fünfzigern – zunehmend häufig und verbittert mit sich selbst führt, muss er sich allerdings eingestehen, dass er sich zu sehr angestrengt hat und sich diese Anstrengung auf die Leser und leider auch für die Kritiker übertrug: „Dostojewski und Kafka müssen sich keine Sorgen machen.“ Er wird sie nicht vom Thron stoßen.

Der andere Schriftsteller ist sein Stiefsohn, dem seine Mutter Connie – Baums dritte Ehefrau – den prätentiösen altenglischen Vornamen Thane gegeben hat. Sie ist diesem überperfekten Bürschchen („A spoiled supercilious cockalorum with all the answers“) in einer pathologischen Zuneigung verbunden, die in der Psychologie „Iokaste-Komplex“ genannt wird – Iokaste war die Mutter von Ödipus, mit der er bekanntlich schlief. Die ans Erotische grenzende Sohnesliebe wird angeheizt dadurch, dass die Ehe Connies und Baums schon lange nicht mehr vollzogen wird und der Sohn – im Gegensatz zum Gatten – erfolgreich ist. Das erste Buch des Mittzwanzigers wird ein Bestseller (35.000 verkaufte Exemplare in kurzer Zeit sind die Marke) und obendrein von allen wichtigen Kritikern gefeiert.

Weil der Erfolg des verhassten „little putz“ (ein kaum übersetzbares jiddisch-englisches Schimpfwort) allein noch nicht ausgereicht hätte, um Baum an den Rand des Wahnsinns zu treiben, stolpert er auch noch in eine Belästigungs-Affäre. Er hat sich dazu hinreißen lassen, übergriffig gegenüber einer japanischen Journalistin zu werden, von der er sich ausnahmsweise mal verstanden fühlte („She asked all the right questions. She got all the references. She was up on her Hannah Arendt. I was impressed“.)

Man geht keine allzu großen Risiken ein, wenn man in dieser Familienaufstellung und in diesem Problem autobiographische Anspielungen sieht. Connie ist, wie Woody Allens Ex-Frau Mia Farrow im Hollywood-Milieu aufgewachsen. Wie Mia Farrow hat Connie ein Beuteschema, in dem nur geniale Männer vorkommen. Wie Farrow (mit Frank Sinatra und dem Dirigenten André Previn) war auch Connie vor ihrem jetzigen Mann mit zwei echten Großkünstlern zusammen.

Die Entgleisung gegenüber der Asiatin und die daraus erwachsende Cancel-Gefahr kann man als indirektes Echo jener Angelegenheit lesen, die erst Woody Allens Ehe mit Mia Farrow ruinierte und ihn dann in Hollywood zur Persona non grata machte: Er fing eine Affäre mit ihrer Adoptivtochter Sun-Yi Previn an (mittlerweile seit Jahrzehnten Allens Ehefrau). Nachdem das aufgeflogen war, bezichtigte ihn Farrow, ihre Tochter Dylan missbraucht zu haben. Zwei polizeiliche Untersuchungen in verschiedenen Bundesstaaten kamen zum Ergebnis, dass die Vorwürfe nicht stimmen und Mia Farrow den Missbrauch dem Kind wahrscheinlich eingeredet hat. Mindestens ein Adoptivbruder Dylans und die Haus-Psychologin der Familie Farrow sagen ebenfalls, dass das alles gar nicht so passiert sein könnte. Es ändert nichts daran, dass Woody Allen in den USA nicht nur von der Filmbranche behandelt wird, wie ein aufgrund von Beweisen gerichtlich Verurteilter. Vielleicht ist Allens erster Roman sein letzter Film - man kann sich vorstellen, dass er zunächst als Drehbuch geplant war.

An Allens unehmenden Schwierigkeiten hat ein weiteres Mitglied des Farrow-Clans großen Anteil, der auch nur sehr wenig verhüllt Model für den vergötterten Sohn Connies stand: Ronan Farrow. Der in jungen Jahren als Journalist glänzende Ronan, heute das Lieblingskind seiner Mutter, hat durch seine Enthüllungen über Missbrauch und Vergewaltigungen in Hollywood dem Filmproduzenten Harvey Weinstein zu Fall gebracht. Bei Allen hat er das auch versucht. Einiges von Allens Abneigung gegen Ronan (der Vorname ist altenglisch – wie Thane) dürfte in das Porträt des erfolgreichen, streberhaften, superattraktiven und unsympathischen Stiefsohns eingeflossen sein.

Selbstbefriedigung und Selbstgespräche

Diese biographischen Deutungen drängen sich auf, weil auch Asher Baum sehr Woody Allen ähnelt – nicht nur äußerlich mit seiner Brille und seinem „gelehrten“ Aussehen: „Wenn er ein Filmschauspieler wäre, hätte er Psychiater, Lehrer, Wissenschaftler oder Schriftsteller gespielt.“ Auch sein an Verrücktheit grenzendes Einzelgängertum kommt einem bekannt vor. Wenn er gesteht, Selbstgespräche zu führen, weil Asher Baum eigentlich der einzige angemessene Gesprächspartner für Asher Baum ist (allerdings sind sich die beiden immer seltener einig), dann denkt man an das legendäre Allen-Zitat „Nichts gegen Selbstbefriedigung. Es ist Sex mit jemandem, den man liebt.“ Das Biographische alles muss ein Journalist zwar erwähnen, um nicht naiv und unwissend dazustehen. Als Leser benötigt man es aber nicht, um „What’s with Baum“ zu genießen und kann es gleich wieder vergessen.

Die 166 Seiten des englischen Originals funktionieren auch so. Die „New York Times“-Kritikerin hat es mit Recht eine „Novelle“ und eine „Herbstgeschichte“ genannt. Nicht nur, weil das Büchlein mit Baums einsamen Spätsommerspaziergängen um einen kleinen See in Neuengland beginnt. Sondern weil einer der größten Künstler der letzten 50 Jahre im Herbst seines Lebens vom Herbst der Literatur und vom Herbst jenes spezifischen jüdischen New Yorker Intellektuellen-Milieus erzählt, in dem so viele seiner Filme spielen.

Der bösartige Blick, den Baum auf seinen Stiefsohn, seine Frau und fast alle anderen wirft, wäre unerträglich, wenn er sich auch noch in Selbstgerechtigkeit suhlen würde. Aber Baum ist – wie die ungezählten „Woody Allen“-Figuren in Allens Filmen – jemand, dessen Besessenheiten und dessen Gemäkel an allem trotz ihrer Wahrhaftigkeit so übertrieben sind, dass daraus Komik entsteht. Er ist ein lächerlicher Mensch in einem lustigen Buch, mit dem Woody Allen ebenfalls Dostojewski und Kafka keine Konkurrenz machen wird, aber vielen Menschen eine Freude.

Vorerst allerdings nicht auf Deutsch. Während französische, italienische und spanische Übersetzungen schon in den nächsten Wochen erscheinen, hat das Buch offenbar hierzulande noch keinen Verlag gefunden.

Woody Allen: „What’s with Baum?“ Swift Press, 166 Seiten, ca. 26 Euro.

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