„Da bin ich groß geworden“, erklärt die ältere Dame der Aufsicht, als der Sensor fiept. „Deshalb gehe ich so nah ran.“ Mit großer Aufmerksamkeit betrachtet sie die Bilder von Berliner Plattenbauten. „Am Tierpark standen die gleichen. Die haben sie ja überall gebaut.“ Die Besucherin der Ausstellung im Potsdamer Kunsthaus Das Minsk kann auch genau sagen, hinter welcher vorproduzierten Wandplatte das Schlafzimmer liegt – das war bei allen Wohnungen offenbar gleich, nur die Balkonvarianten unterschieden sich. Was unserer auf Individualität getrimmten Gegenwart Schrecken einflößt, die Austauschbarkeit der Wohnverhältnisse, erweckt bei anderen wohlige Erinnerungen zum Leben.

Der Plattenbau ist ein geistiges Konstrukt ebenso wie eine Bauweise. Das ist eine Erkenntnis aus der, von dem freien Kunstkritiker Kito Nedo kuratierten Ausstellung „Wohnkomplex“. Insgesamt 50 Arbeiten – Installationen, Gemälde, Zeichnungen, Fotografien und Filme – beleuchten die Plattenbauten in der DDR von allen Seiten. Was die Schau nicht macht: einen mit technischen Details, Stadtplanung oder Architekturdebatten zu behelligen.

Der in Leipzig aufgewachsene Nedo hat ausschließlich Kunstwerke versammelt, um sich dem Phänomen Platte zu nähern. Das erweist sich als Verdienst. Man ist frei zu sehen und zu assoziieren. Man wird überrascht, darf sich treiben lassen, muss kein schnelles Urteil bilden. Aber man fragt sich doch auch ganz von selbst, ob die Platte eine Dystopie war, ein Fehler, oder eine tolle Sache, die erst die Wessis kaputt geredet haben. Im Osten, lernen wir, sagte man einfach Neubau dazu.

Kindheit im Neubaugebiet

Schaut man sich heute die Stadtpläne etwa von Berlins altem Zentrum an, dann fallen im Mietskasernenmeer die grünen Zonen auf, in denen sich freistehende sozialistische Wohnriegel erheben, umgeben von großzügigen Rasenflächen, Spielplätzen und klimafreundlichen Bäumen. In Mitte, als Lückenfüller zwischen Altbauten, stehen Altstadtplatten und senken den Mietspiegel. Reißt man die alten Tapeten von den Wänden, lebt man darin heute lässig vor rohem Beton.

Vor der Wende waren dagegen stark gemusterte Tapeten angesagt. Der Japaner Seiichi Furuya lebte von 1984 bis 1987 als Übersetzer in Dresden und Ost-Berlin. Wie ein Tagebuch hielt er mit der Kamera seinen Alltag fest: den jungen Sohn im bunt gemusterten Wohnzimmer, Kinder in Primärfarben auf dem Spielplatz, Fernsehrevuen und Aufmärsche von NVA-Soldaten, ein Stadtbezirksfest mit Akrobaten, Raketen-Lichtbögen über den Plattenbauten am Silvesterabend.

Die Malerin Sabine Moritz, heute mit Gerhard Richter verheiratet, hat sich Anfang der 1990er ihre Achtzigerjahre-Kindheit im Neubaugebiet Jena-Lobeda erinnert. Die leicht verrutschten Perspektiven und Detailerinnerungen geben den Zeichnungen und Gemälden eine kindliche Wahrhaftigkeit, aber auch etwas Forensisches. Insgesamt hat sie 150 Arbeiten in dieser Serie geschaffen, als Rekonstruktion einer vergangenen Welt, die Teil ihrer Biografie ist. Dystopisch ist nichts daran.

Das Problem der Großwohnsiedlungen war vielleicht nicht die Konstruktionsweise der Bauten, sondern das Verständnis vom Leben, das ihnen zugrunde lag. Auf Uwe Pfeifers sachlichen Gemälden blickt man durch Passagen auf Wohnblöcke, die wie mit dem Lineal gezeichnet sind. Wäscheleinenstangen auf einer grünen Rasenfläche, Autos vor einer Plattenbauwand in nebligem Dunst. Ein Paar trinkt Kaffee auf seinem verschatteten Balkon, während die Lichter in den Blöcken jenseits breiter, leerer Straßen bernsteinfarben schimmern. Pfeifers Bilder sind weder Idyllen noch Anklagen der Verhältnisse. Seine Malweise unterstreicht noch das Reißbretthafte, Mathematische der Großsiedlungen.

Das Leben in der Platte ist eins, das ohne die über Jahrhunderte etablierten Orte des Sozialen auskommen muss. Die um Schulen herum konzipierten sogenannten „Wohnkomplexe“ in der DDR hatten wenige, zentrale Einkaufsmöglichkeiten und Gaststätten, aber nicht die kleinteilige, in Eigeninitiative aufgebaute Infrastruktur, die man gemeinhin als urban bezeichnet. Wie frühe Computerspielfiguren schreiten uns auf Pfeifers „Fußgängertunnel“ von 1973 in starre Wintermäntel gehüllte, entindividualisierte Aktentaschenträger entgegen. Kein Staubkorn, kein Papier stört das perfekte Raster der Unterführung, es gibt keinen Blickkontakt und kein Palaver.

Die Balkone immerhin werden individuell gestaltet, wie das Gemälde „Hausfassade“ von Wolfram Ebersbach verrät. Und nach Feierabend? „Das gemeinsame Feiern zu verschiedenen Anlässen war in vielen Häusern durchaus üblich“, erfährt man in einer von dem Geografen Nico Grunze verfassten Studie über „Ostdeutsche Großwohnsiedlungen: Entwicklung und Perspektiven“. Das Buch liegt im kuratierten Lesezimmer des Museums aus. So richtig erblühen wollte der Gemeinsinn in den Plattenbausiedlungen Grunze zufolge aber nicht, dafür fehlten die Voraussetzungen.

Die Gleichförmigkeit der Lebensverhältnisse bedeutete auch ein hohes Maß sozialer Kontrolle. Das fing schon bei der Wohnungsvergabe an, die nach festen Kriterien erfolgte – begehrte Neubauwohnungen wurden einem zugeteilt. So lebte man, wo man hinbeordert wurde und richtete sich ein. Sibylle Bergemann (1941–2010) fotografierte 1981 die Wohnzimmer eines ganzen Häuserblocks. Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen halten die individuellen Mieterlösungen auf dem immer gleichen Grundriss mit Küchendurchreiche fest. Bodentiefe Vorhänge, auffällig gemusterte Textilien, Kunstdrucke mit Waldmotiven, Nippes – von innen sehen die Plattenbauten nicht so viel anders aus als westdeutsche Wohnungen der Mittelschicht.

Typ WBS 70 – der Goldstandard

Zwar gibt es auch im Westen ab den 1960er-Jahren vermehrt industrialisiertes Bauen, aber keinen einheitlichen nationalen Standard. In der DDR, in der es praktisch keine private Bauwirtschaft gibt, ist die „Platte“ dagegen die verbindliche Form des Wohnungsbaus. Sie entwickelt sich zentral gesteuert und systematisch. Ab 1970 wird der Typ WBS 70 der Goldstandard: sechs- bis elfgeschossig aufgetürmt, variabel, schnell zu montieren. Die erdrückende Rationalität von WBS 70 und anderen Systemen wird von Ruth Wolf-Rehfeldt (1932–2024) mit der Schreibmaschine auf die Spitze getrieben. Allein mit Schreibmaschinenanschlägen formt sie eine stilisierte Skyline aus Quadern, die sich perspektivisch auffächert. Von menschlichem Leben ist da nichts zu ahnen.

Der Ausstellungstitel „Wohnkomplex“ ist vieldeutig. Einmal ist es der offizielle DDR-Begriff für die kleinste Planungseinheit des sozialistischen Städtebaus. Im Begriff steckt assoziativ aber auch der „Baader-Meinhof-Komplex“ und damit Extremismus und Terror. Wie die Anonymität der Plattenbausiedlungen ab 1980 zum Unterschlupf für Terroristen werden konnte, verdeutlichen die aus Zinkguss gefertigten Modell-Wohnblöcke von Markus Draper („Grauzone“, 2015). In den realen Vorbildern dieser Modelle lebten zehn ehemalige Terroristen der RAF, nachdem die DDR ihnen Asyl gewährt hatte – mit neuer Identität und unter strenger Geheimhaltung. Nach der Wende wurden die meisten von ihnen verhaftet.

Nach dem Mauerfall verlieren viele DDR-Bürger ihren finanziellen und sozialen Halt. Aus den Plattenbausiedlungen von Berlin-Marzahn und -Hellersdorf, Halle-Neustadt, Rostock-Lichtenhagen werden Brennpunkte – was heute schon wieder anders ist, aber nachwirkt. Henrike Naumann, die kommendes Jahr den deutschen Pavillon bei der Kunstbiennale von Venedig bespielen wird, beamt uns in eine Platte der frühen Neunziger. Auf inszenierten Home-Videos in zwei gegenüberliegenden Zimmerecken sehen wir junge Neonazis zwischen Ibiza-Urlaub und Tristesse im Jugendzimmer.

Die Platte mit ihren abgehängten Bewohnern wird zum Klischee – und zum Schauplatz von Rechtsextremismus. Das Trio, das hier feixend abhitlert, besteht aus den späteren NSU-Terroristen um Beate Zschäpe. Und heute? Nach den Baseballschlägerjahren kommen die Rollatorenjahre. Die Plattenbausiedlungen waren nicht nur baulich die jüngsten Wohngebiete in der DDR. Da kaum jemand umzog, sind die Bewohner der Platten heute überdurchschnittlich alt.

Angesichts explodierender Mieten, bis zum Ersticken gedämmten und immer teurer werdenden Neubauten in den Großstädten kann sich die Gegenwart nicht mehr höhnisch über die „Fickzellen mit Fernwärme“ lustig machen, von denen der Dramatiker Heiner Müller sprach. Tut sie auch nicht. Mehr als jede zehnte neu gebaute Wohnung wurde 2024 mit Fertigbauteilen errichtet, zehn Jahre zuvor waren es bloß acht Prozent, und der Spitzenverband der Wohnungswirtschaft GdW rechnet damit, dass in Zukunft bis zu einem Viertel aller Neubauten so entstehen könnten.

Ist Massenware aus der Fabrik die Lösung für die drängende Wohnungsfrage oder werden die alten Fehler neu aufs Neue gemacht? Mal sehen. Die Geschichte des Plattenkomplexes ist noch lange nicht zu Ende erzählt. In dieser sehenswerten Schau kann man ihre Anfänge besichtigen.

„Wohnkomplex. Kunst und Leben im Plattenbau“, bis 8. Februar 2026, Das Minsk, Potsdam

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