Die in New York und im texanischen Marfa lebende deutsche Künstlerin Charline von Heyl zählt zu den bedeutendsten Malerinnen der Gegenwart. Ihre abstrakten Gemälde in zumeist identischen Formaten stechen durch ihre unerschrockene stilistische Vielfalt hervor. Furchtlos pendelnd zwischen verführerischer Oberfläche, präzise eingesetzten Farben und immer wieder auch Figuration im Abstrakten, stehen ihre Bilder für eine permanente Suche nach dem Wesen der Malerei – das gleichermaßen von der eigenen Geschichte wie vom Wissen um das, was sie als den „Anachronismus der Malerei“ bezeichnet, durchdrungen ist.

Geboren 1960 in Mainz, zog Charline von Heyl in den 1980er-Jahren zunächst nach Hamburg, wo sie bei Jörg Immendorff studierte, bald darauf nach Köln und schließlich nach New York, wo ihr der internationale Durchbruch gelang. Seitdem werden ihr auch in Europa große institutionelle Ausstellungen gewidmet, in Europa zuletzt 2018 in den Deichtorhallen Hamburg und 2022 auf der 59. Biennale von Venedig. Die Brüsseler Galerie Xavier Hufkens zeigt bis zum 25. Oktober eine große Einzelausstellung mit neuen Bildern.

WELT: Frau von Heyl, Sie sind 1994 aus Deutschland nach New York gezogen, nachdem Sie sich bereits als Malerin einen Namen gemacht hatten. Sehen Sie sich heute als deutsche oder amerikanische Malerin?

Charline von Heyl: Weder noch, eigentlich. Ich bin einfach nur Malerin. Natürlich spielen die eigenen Wurzeln und der Wohnort eine Rolle, aber die Welt, insbesondere die Kunstwelt, ist nicht mehr lokal geprägt.

WELT: Zu Beginn Ihrer Karriere gehörten Sie zu einer Gruppe von Gleichgesinnten in Köln und Hamburg. Sie standen im Dialog mit Menschen, die die Kunstwelt verändert haben. Wie hat Sie der Umgang mit so starken Persönlichkeiten wie Martin Kippenberger, Albert Oehlen oder Diedrich Diederichsen geprägt?

Heyl: Es war eine aufregende Zeit mit so vielen brillanten Köpfen und frischer Kunst. Es gab anregende Dialoge und eine Vielzahl von Meinungen. Es war herausfordernd, aber auch inspirierend und motivierend. Ich habe damals mit Mayo Thompson zusammengelebt. Ich schätze mich glücklich, dass es für mich so begonnen hat. Aber ganz ehrlich: Das ist schon lange her.

WELT: Sind Sie also eine Malerin des 21. Jahrhunderts?

Heyl: Ich betrachte die Malerei als anachronistisch, und das ist ein Teil ihrer Kraft. Natürlich bin ich mir dessen bewusst, was derzeit geschieht, im Guten wie im Schlechten, und ja: Wir leben im 21. Jahrhundert. Für mich muss die Malerei aber darüber hinausgehen, um relevant zu sein. Als Malerin lebe ich daher nicht im 21. Jahrhundert, sondern in der Gegenwart.

WELT: Andrei Tarkowski sagte: „Wenn Kunst ihr Publikum berühren will, muss sie im Kern persönlich sein.“ Jedes Kunstwerk muss die eigene Geschichte enthalten, um Substanz zu haben, selbst wenn sie bis zur Unkenntlichkeit gefiltert wird.

Heyl: Er hat vollkommen recht. Übrigens kann Malerei auch gar nicht anders funktionieren. Damit ein Gemälde mit Kraft entstehen kann, muss es so rätselhaft sein, wie ich mir selbst. Manchmal fühlt es sich so an, als würde sich das Bild, an dem ich gerade male, parallel zu meinen Absichten entwickeln, auf eine offenbarende Weise. Ein solcher Prozess wäre ohne meine eigenen Gedanken, meine Geschichte und Gefühle undenkbar. Diese Elemente stehen in einer ambivalenten Beziehung zueinander, treiben sich aber gegenseitig voran. Das ist der Kern. Andernfalls wäre ein Bild nur ein Produkt, ein Design und letztlich uninteressant.

WELT: Malen Sie nicht gemäß Ihrem eigenen Stil?

Heyl: Ich habe nie bewusst daran gearbeitet, einen Stil zu entwickeln, noch war ich jemals daran auch nur interessiert. Stil ist immer konventionell, letztlich vorhersehbar und oft Selbstzweck. Als Maler wollen wir in einen Bereich vordringen, in dem etwas Frisches und Neues geschieht. Ich habe aber im Laufe der Jahre eine spezifische Bildsprache mit einem umfangreichen Vokabular entwickelt.

WELT: Sie haben zu einer Zeit mit dem Malen begonnen, als eine große Debatte darüber geführt wurde, ob die Malerei noch eine Zukunft hat.

Heyl: Glücklicherweise ist diese Debatte vorbei.

WELT: Stattdessen erlebt der Kunstmarkt derzeit turbulente Zeiten. Wie navigieren Sie durch sie hindurch?

Heyl: Der Kunstmarkt, vor allem das Auktions-Theater, ist schon immer eine eher launische Schimäre gewesen, die sich von Gier oder Angst hat manipulieren lassen. Ich kann das nur von außen beobachten, auf meine Arbeit im Atelier hat das überhaupt keinen Einfluss. Ich navigiere also gar nicht.

WELT: Erleben Sie Nervosität, wenn Sie sich unter Malerkollegen umhören, oder wird auch dieser Krise am Markt mit einem „Weiter so“ begegnet?

Heyl: Die Zeiten fühlen sich ja insgesamt fragil und beunruhigend an. Wir unterhalten uns natürlich über alles, vor allem über den politischen Wahnsinn überall. Aber gerade in einer Zeit der Krise hilft es dann auch, über Kunst nachzudenken – und nicht über den Kunstmarkt. Neue Bilder zu betrachten und die Batterien aufzuladen.

WELT: Dennoch bleibt die alte Frage bestehen: Als Malerin arbeiten Sie mit denselben Grundmaterialien wie alle Ihre Vorgänger: Keilrahmen, Farbe, Leinwand und Pinsel. Was gibt Ihnen die Zuversicht, dass die Malerei mit ihren begrenzten Materialien weiterhin bestehen wird?

Heyl: Persönlich finde ich diese Frage aber nicht besonders interessant. Für mich ist es viel wichtiger, die Freiheit zu haben, den Anachronismus, der der Malerei zugrunde liegt, anzunehmen. Mich interessieren die pure Freude und die Herausforderung, Maler zu sein und in das Material und die Farben einzutauchen. Gerade gestern war ich in Brügge und stand vor einem Porträt von Jan van Eyck, das so frisch aussah, als wäre es gerade erst gemalt worden. Ein Stuhl aus derselben Zeit sieht hingegen aus wie ein Stuhl aus dem 14. Jahrhundert. Aber das Gemälde von van Eyck mit seiner Psychologie, Intensität und Meisterschaft steht vor mir, als wäre es gerade erst entstanden. Malerei kann die Zeit überwinden. Das ist unglaublich kraftvoll. Eben deshalb bezeichne ich Gemälde gern auch als „Maschinen“. Sie können diese direkte Kraft haben.

WELT: Mit der möglichen Ausnahme von Musik sind Bilder nicht an Sprache gebunden.

Heyl: Genau. Gemälde müssen niemals übersetzt werden, und das macht sie so kraftvoll. Meine Mutter war Französin, und ich wuchs mit einem Bruch zwischen verschiedenen Identitätskonzepten auf. Als Mensch und Person bin ich daher stark von Sprache und vom Nachdenken über Sprache geprägt. Für mich bedeutet Malerei, ganz konkret zu fragen: „Wie denke ich ohne Sprache?“ Kann Malerei das irgendwie darstellen? Wenn ich vor einer weißen Leinwand stehe, kommt mir daher auch nie ein Bild in den Sinn, das ich malen möchte. Ich muss mich stattdessen aktiv an die Leinwand begeben und mit einem Pinsel oder Kohle zu malen beginnen. Erst dann entsteht ein Bild. Während ich male, bewerte ich, was ich gerade tue. Folglich wird vieles, was ich beim Malen schaffe, anschließend wieder entfernt, übermalt oder verändert. Im Kern ist Malen, wie alles andere auch, in erster Linie ein Akt des Editierens. Natürlich stellen sich manche Maler eine Szene vor, die sie in ein Gemälde umsetzen möchten. Ich möchte aber nichts umsetzen. Ich möchte Malerei schaffen.

WELT: Inwieweit ist Malen für Sie ein einsamer Prozess?

Heyl: Ich mag es nicht, wenn andere Menschen in meinem Atelier sind, während ich male. In dieser Hinsicht male ich sehr zurückgezogen. Ich besuche nicht einmal mehr die Ateliers meiner Malerfreunde. Das war wichtig, als wir jünger waren, aber jetzt wissen wir längst alle, was wir tun. Es reicht daher, wenn wir die fertigen Werke des anderen sehen. Dann sind wir stolz und freuen uns für einander. Im Atelier ist es jedoch am besten, allein zu sein.

WELT: Sie sind mit Christopher Wool verheiratet, der ebenfalls Maler ist. Besprechen Sie Ihre Arbeit nicht miteinander? Besuchen Sie sich gegenseitig in Ihren Ateliers?

Heyl: Interessanterweise nie in New York! Ich bin nie in seinem Atelier und er ist nie in meinem. Wir besuchen auch selten unsere Vernissagen. In Marfa, Texas, liegen unsere Ateliers jedoch nebeneinander, sodass wir uns natürlich gegenseitig unsere Arbeiten ansehen. Es ist eher so etwas wie ein respektvolles „Daumen hoch“ oder „Daumen runter“. Das sind die einzigen Kommentare, die wir natürlich zur Kenntnis nehmen, die aber keine Konsequenzen haben.

WELT: Wo haben Sie die 34 Bilder gemalt, die Sie jetzt in Brüssel ausstellen?

Heyl: Teils in Brooklyn, teils in Marfa. Ich sehe die Bilder zum ersten Mal nebeneinander hängen in Brüssel. Das ist auch für mich überraschend und aufregend!

WELT: Kann man Ihre Arbeit als „totale Malerei“ bezeichnen, wenn Sie in Ihren Bildern das gesamte Spektrum an malerischen Möglichkeiten ausschöpfen, anstatt sich einzuschränken?

Heyl: Für mich ist es immer noch einfach Malerei. Alle Mittel sind akzeptabel, um das gewünschte Bild zu erzielen. Tatsächlich benötige ich gar nicht so viele verschiedene Mittel. Auch in meinen Werken gibt es keine großen Unterschiede. Andererseits gibt es diese fantastischen Farben mit besonderen Eigenschaften, die unterschiedlich auf Licht reagieren. In meinem neuen Gemälde „Zeno“ beispielsweise verwandelt sich das Bild von links nach rechts von Grün zu Orange. Technisch gesehen liegt das nur an der Farbe. Manchmal denke ich: „Hätte William Turner so etwas gehabt, wäre er aus dem Häuschen gewesen.“ Er hätte es geliebt, mit Interferenzfarben zu experimentieren, aber die gibt es erst seit etwa drei Jahrzehnten. Aber macht die Verwendung solcher Farben meine Bilder zu „totaler Malerei“?

Charline von Heyl, bis 25. Oktober 2025, Galerie Xavier Hufkens, Brüssel

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