Rafael Seligmann erzählt die Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus anders. Nicht als abstrakte Darstellung und Aufzählung von Ereignissen aus dem Geschichtsbuch oder von Zeitungsmeldungen, sondern als persönlicher Erfahrungsbericht von fast 70 Jahren Dauer. Als Seligmann 1957 nach Deutschland kam, verhieß ihm sein Vater: „Deutschland wird dir gefallen“. Diese Zusage ist nie in Erfüllung gegangen. Er blieb als „Musterjude“ zumeist ein Fremder.
Rafael Seligmann wurde 1947 in Tel Aviv geboren. Er ist einer der bekanntesten jüdischen Autoren Deutschlands. Der Historiker und Journalist verfasste zahlreiche Romane und zeitgeschichtlichen Analysen und kommentiert für verschiedene Medien das Tagesgeschehen.
Seligmanns neues Buch „Keine Schonzeit für Juden. Die Antwort eines Betroffenen“ erscheint am 15. September 2025 bei Herder (192 S., 18 Euro). Lesen Sie hier Auszüge aus dem Buch:
Saujud der Klasse
Ende August 1957 langten meine Eltern mit mir aus Israel in München an. Als Zehnjähriger wurde ich in die vierte Klasse der Volksschule eingeschult. Deutsch war meine Muttersprache. Ich verstand jedes Wort, allerdings konnte ich weder deutsch schreiben noch lesen. Ich musste mich an gelegentliche „Saujud“-Beschimpfungen gewöhnen. Als mein ungeliebter jüdischer Klassenkamerad Erwin von Mitschülern verprügelt wurde, sprang ich ihm bei. Daraufhin konzentrierte sich die Wut der Raufbolde gegen mich. Ich wurde ordentlich verprügelt.
Mutter erkannte mein Derangiertsein. Sie ruhte so lange nicht, bis ich ihr mein Verhauen geschildert hatte. „Ich werde nie zulassen, dass die Nazibrut mein jüdisches Kind misshandelt!“, bestimmte Hannah und begab sich stante pede zur Schule, wo sie den Direktor aufsuchte. Er ließ Mutters Klage nicht gelten: „Wenn es Ihnen nicht passt, nehmen Sie Ihren Zuckerknaben und gehen Sie zurück nach Palästina!“
Lehrjahre
Ich war Tagträumer und Schulversager. Nach der Realschulreife brach ich die Schule ab, wollte endlich wieder in meine Heimat, nach Israel. Mutter hielt das für meschugge, vor allem für gefährlich, und steckte mich in eine Lehre als Fernsehtechniker. In der Werkstatt waren Schmähungen an der Tagesordnung. Doch ich wollte glauben, dass sie keine spezielle Bedeutung hätten. „Saujud“ bedeutete ebenso wenig wie „Saupreiß“.
Diese Illusion änderte sich schlagartig am 5. Juni 1967. In den Morgennachrichten wurde (fälschlicherweise) bekannt gegeben, die arabischen Armeen seien nach Israel eingedrungen. Haifa brenne.
„Endlich werden die Juden ausgerottet“, bemerkte unser Geselle Günter, ohne die Stimme zu heben. Als er meine Erschütterung bemerkte, meinte er freundlich: „Reg’ di ned auf, Rafi. Di hab’ ich ned gemeint. Du bist in Ordnung. Aber die anderen müssen weg.“
Am liebsten hätte ich ihm meinen Lötkolben ins Gesicht gestoßen. Aber seine Worte lähmten mich.
Am Katzentisch in Amman 2017
Ich wurde aus meinen Gedanken durch die Anweisungen einer deutsch-arabischen Professorin gerissen, die Frau Salamander (Rachel Salamander, Anm. d. Red.) und mich höflich aufforderte, das Treffen zu verlassen, ehe Minister Gabriel, den ich als Herausgeber der „Jewish Voice from Germany“ begleitete, mittags zur Gruppe stoßen würde. Es störte mich, dass wir bei den Juden ausgeschlossen sein sollten, doch wir waren Gäste der Deutsch-Jordanischen Universität und hatten uns nach den Wünschen des Hauses zu richten. Ich kannte aus Deutschland die Höflichkeit arabischer Bekannter. „Das geschieht auf Anweisung des Auswärtigen Amtes in Berlin“, erläuterte mir eine arabische Professorin.
Die Auskunft empfand ich als einen Schlag ins Gesicht. 70 Jahre nach Ende der Nazi-Herrschaft nahm sich das Auswärtige Amt heraus, Juden von einem Essen mit dem deutschen Außenminister zu verbannen. „Das mache ich nicht mit!“, begehrte ich auf. Ich konnte und wollte mir diese Demütigung nicht bieten lassen: „Ich bleibe hier!“ Die Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck hatte meinen Ausschluss mitbekommen und bot mir ihren Platz an der Tafel an. Ich dankte ihr. Doch ich wollte mich nicht einschleichen. Lediglich in Würde behandelt werden wie alle anderen nichtjüdischen Anwesenden, sagte ich Frau Beck. Die übrigen Bundestagsabgeordneten reagierten nicht.
Andreas Görgen, der Leiter der Kulturabteilung, versuchte die Situation zu entschärfen, indem er einen Extratisch für Frau Salamander und mich zusammenstellte. Keinen Extraplatz für Juden! Einer Sonderbehandlung wollte ich mich nicht unterwerfen.
Um zwölf Uhr kam Sigmar Gabriel auf den Balkon und ließ sich zu seinem Platz in der Mitte der Tafel geleiten. Ich trat auf ihn zu. „Herr Gabriel. Das machen Sie mit mir nicht! Ich lasse mich nicht von diesem Tisch verbannen! Wenn es so sein soll, dann lassen Sie mich zum Flughafen bringen!“
Sigmar Gabriel fühlte, wie sehr mich der Ausschluss aufregte. Er begriff im Gegensatz zu den Beamten seines Hauses augenblicklich die symbolische Bedeutung des Geschehens und mögliche Folgen. Der Politiker nickte mir aufmunternd zu. „Sie haben recht, Herr Seligmann. Das war grob unhöflich. Selbstverständlich sind Sie an unserem Tisch willkommen.“
Eine jüdische Nase
Unangekündigt meldete sich die Kunsthistorikerin Gerda Panofsky in der Redaktion der „Jewish Voice“. Die temperamentvolle Witwe des Kunsthistorikers Erwin Panofsky war empört über die Anwürfe gegen den toten Wissenschaftler. Die geborene Christin besaß ein feines Gespür für die antijüdischen Klischees von Kollegen des Forschers. „Niemand der schlauen Akademiker wird je eine offene antisemitische Bemerkung machen. Dennoch verbreiten sie fortwährend ihr antijüdisches Gift.“ Gerda Panofsky setzte mit Wilhelm Hauffs Märchen „Zwerg Nase“ aus dem Jahre 1827 ein. Damit wollte sie die Diskriminierung des Zwergs als minderwertig aufzeigen. Über entsprechende „Untersuchungen“ kam es zu den Nazis und der „Rassenkunde des jüdischen Volkes“ von Hans F. K. Günther, einem Kommilitonen ihres Mannes. Dieser habe „Schwäche“ und „Alter“ als Merkmale des Juden der „stählernen Stärke“ der Deutschen gegenübergestellt. Als gegenwärtige Beispiele erwähnte Frau Panofsky einen Zeitungsbeitrag des Hamburger Emeritus Wolfgang Kemp vom Vorjahr, in dem dieser das Alter Panofskys hervorhob. Beim Satz „Wir fanden einen kleinen gnomhaften Mann mit großen Augen und einer großen Nase“ begann ich das Empfinden der Wissenschaftlerin zu begreifen. Musste der Gnom obendrein klein sein und eine große Nase besitzen? Wie oft hatte ich die Schmähung „Judennase“ anhören müssen. Ich bot Frau Panofsky an, ihre Meinung bei uns niederzuschreiben.
Am nächsten Tag hatte ich ihren Artikel. Sie war eine gewissenhafte Geisteswissenschaftlerin, verstand es, die Leser in Spannung zu halten. Nachdem sie im letzten Absatz das mir bekannte Zitat des zwerghaften Gnoms mit großen Augen und langer Nase wiederholt hatte, schloss sie mit der Bemerkung: „Panofsky hatte strahlende Augen und eine normale Nase.“ Touché.
Dieser Beitrag verdiente eine spezielle Bebilderung. Der Blick auf unsere Redaktion, Biodeutsche, Deutsch-Türken, Korea-Amerikanerin, Jude, drängte mir eine Idee auf. Ich ließ unser aller Nasen fotografieren und reihte sie aneinander. Ein buntes Gemisch, das alle rassistischen Vorurteile Lügen strafte. Es war ein anrührendes und zugleich entlarvendes Titelfoto gegen Rassismus.
Streiten wie in der Judenschul
Klärender Streit kann helfen, die jüdische Gemeinschaft aus dem Getto der Angst zu befreien. Es ist ein Gebot der Menschenwürde, auf deren Unantastbarkeit wir unser Gemeinwesen begründen. In knapp 70 Jahren haben mich immer wieder Ausbrüche von Judenhass in Deutschland verletzt. Doch auf Dauer zermürbender waren Gleichgültigkeit, Opportunismus, Gedankenlosigkeit – am ärgsten: mangelndes Mitleid. Ich habe diese fortwährenden Angriffe nur durch den Beistand meiner Frau und von Menschen mit Anstand ertragen. Doch das Desinteresse, die Teilnahmslosigkeit und der fehlende Beistand der Mehrheitsgesellschaft haben ihren Tribut gefordert. Dadurch wird man zu einem permanenten psychischen Ausnahmezustand veranlasst. Das sollte niemandem zugemutet werden.
Ein Funke Hoffnung
Obgleich ich hierzulande eine gute Ausbildung genoss und später Anerkennung fand, wollte ich wiederholt Deutschland verlassen. Doch stets standen mir Menschen zur Seite. Um in Deutschland ein menschenwürdiges Leben führen zu können, braucht es mehr, die Solidarität der Mehrheitsgesellschaft.
Gebt endlich die Zuschauerrolle auf! Ebenso wie nichtssagende Reden und leere Versprechungen. Begreift, dass das Judentum Teil der deutschen Gesellschaft und Geschichte ist, auch der christlichen Religion!
Nur wenn Ihr Euch dafür engagiert, ergibt eine Fortsetzung des deutsch-jüdischen Miteinanders Sinn. Fehlt das entsprechende Bewusstsein und mangelt es des Willens zum Zusammenwirken, dann lasst uns die 1700-jährige deutsch-jüdische Geschichte beenden. Der Brudermord liegt mehr als 80 Jahre zurück. Nunmehr droht das Versickern in die Gleichgültigkeit. Nicht nur gegenüber den Juden, sondern gegenüber jedem Menschen.
Nehmen wir diese Gelegenheit mit aller Ernsthaftigkeit und Chuzpe wahr, so lange Zeit ist – für alle von uns. Nur dann besteht ein Funke Hoffnung.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke