Man darf das, wovon Francis Lawrences Stephen-King-Verfilmung „The Long Walk“ erzählt, ein MAGA-Event nennen. Denn hier wird marschiert, um Amerika wieder großzumachen. Jedenfalls, wenn es nach dem Ausrichter des gleichnamigen Wettkampfes geht. Nach einem großen Krieg liegen die USA wirtschaftlich danieder. Ein Militär (kalt gespielt von „Star Wars“-Star Mark Hamill), der nur der „Major“ genannt wird, hat deshalb ein grausames Fernsehspektakel erfunden, das die „Epidemie der Faulheit“ im Land eindämmen soll:
50 junge Männer begeben sich auf einen Marsch ohne festes Ziel. Denn wer am Ende noch läuft, nach Hunderten von Kilometern, auf Asphalt, durch menschenleere Gegenden, bei Tag und Nacht, Regen oder Sonnenschein, hat gewonnen. Pausen gibt es keine, drei Meilen pro Stunde müssen geschafft werden.
Es wäre nun nicht Stephen King, der sich das Ganze ausgedacht hat (in einem 1979 unter dem Pseudonym Richard Bachmann veröffentlichten Roman gleichen Titels), wenn diejenigen, die nicht mehr können oder wollen, einfach das Handtuch schmeißen dürften. Der Sieger dieses „Todesmarsches“ – der zugleich präzise wie historisch taub gewählte deutsche Titel spricht Klartext – ist auch der einzige Überlebende.
Wer unter die festgelegte Laufgeschwindigkeit fällt, wird verwarnt. Drei Verwarnungen kann sich ein Läufer leisten, die in schnellem Abstand ausgesprochen werden. Was auf die dritte Verwarnung folgt– ein Sturz oder auch nur ein Stein im Schuh, zu langsames Defäkieren auf den Asphalt können das Maß vollmachen –, wird „Ticket“ genannt: ein Kopfschuss durch einen der Soldaten, die die Gruppe begleiten.
Warum an einem solchen Himmelfahrtskommando teilnehmen? Ziemlich schnell wird klar, dass die Motive der jungen Männer insofern mit denen des Majors vereinbar sind, dass sie zu einer Formel, die der Arzt und Sozialphilosoph Bernard Mandeville (1670–1733) geprägt hat, recht gut passen. Was als Mandeville-Paradox berühmt wurde, ist dies: Private Laster bedingen öffentliche Vorteile.
Vier Musketiere
Privaten Lastern zu frönen, egoistisch dem Ziel zu folgen, als letzter noch auf den Beinen zu stehen, ist aber ein Ergebnis der Zwangssituation, in der sich die jungen Männer wiederfinden. Während der „Major“ auf die Steigerung der Arbeitsmoral in der Gesamtbevölkerung aus ist, die sich jedes Mal einstellt, wenn der „Long Walk“ über die Mattscheiben flimmert, handeln die Läufer selbst zunächst aus dem so verständlichen wie privaten Wunsch, zu überleben. Einmal in der „Lauf-oder-stirb“-Situation, geht es auch um ein Preisgeld, sicher, genauso wie um die Erfüllung jenes einen Wunsches, die dem Sieger winkt. Ausgeschlossen: Wünsche politischer Art – und auch der nach der Abschaffung des „Todesmarsches“ selbst.
Auch der Dramaturgie geschuldet, konzentriert sich die eigentliche Filmhandlung auf einen kleinen Teil der 50 Läufer, die für die 50 US-Bundesstaaten stehen. Sie sind in der Zahl im Vergleich zur Romanvorlage halbiert. Das Drehbuch schrieb JT Mollner, in Absprache mit King, was die teilweise signifikanten Abweichungen von der Vorlage, vor allem beim Schluss, angeht. Vier junge Männer finden sich schnell zusammen. Aus denen wiederum kristallisieren sich zwei als Hauptfiguren heraus.
„The Long Walk“ beginnt, nachdem man auf der Leinwand lesen konnte, dass Raymond Garraty nach einer freiwilligen Bewerbung im Losverfahren zum Läufer seines Bundesstaats bestimmt wurde, mit einer Autofahrt: „Ray“, gespielt von Philip Seymour Hoffmans Sohn Cooper, wird von seiner weinenden Mutter zum Startpunkt gebracht. Sie versucht ihn vergeblich von seiner Teilnahme abzubringen.
Der Erste, den Ray trifft, ist Peter McVries (David Jonsson) mit dem sich, nach einem ersten Zögern beim Ergreifen von Rays Hand, die der dem überraschten Konkurrenten hingestreckt hatte, eine Freundschaft abzeichnet. Die Gespräche der „vier Musketiere“ über familiäre Hintergründe, Glauben und Nicht-Glauben, die Versuche, durchzuhalten und sich gegenseitig zu stützen, schließlich ihre immer stärkere Ermattung, die am Ende nur Ray und Peter übriglässt, sind es, was Lawrences Film, in matten Farben und meist in Frontalperspektive gefilmt, vor allem zeigt.
Man erfährt, dass die vier überzeugt sind, von einer freiwilligen Meldung zum „Long Walk“ könne man nicht sprechen, weil die wirtschaftliche Lage jeden jungen Mann im Land dazu zwinge. Hört schließlich, dass Ray sich, sollte er der letzte Läufer sein, ein Gewehr wünschen werde, um den „Major“ zu erschießen. Der nämlich hat Rays Vater exekutiert, einen Dissidenten, was der Film in einer Rückblende zeigt.
Das ist einer der wenigen Momente, in denen die Kamera ihren beweglichen, dennoch engen Fokus verlässt. Und einer der wenigen Einblicke in das totalitäre System, das in dieser Dystopie in den USA herrscht. Peter versucht Ray von seinem Plan abzubringen, schon seiner Mutter wegen, und erzählt dem Freund von einer schweren Kindheit als Waise, davon, dass er bei einer Messerstecherei fast gestorben sei und deshalb mit dem Preisgeld Gutes für Jungen, wie er einer war, tun wolle.
Neben diesem Zoom in die Lebens- und Gefühlswelt der beiden Hauptfiguren, erfährt man nicht sehr viel über die anderen Läufer. Nicht einmal über ihre Wünsche, sollten sie die anderen überleben: Gewitzelt wird über den Sieger eines Marsches, der sich einen Elefanten gewünscht habe, mit dem er dann nach Hause geritten sei.
Einer der Freunde wünscht sich, schon ziemlich erschöpft, „zehn nackte Ladys“. Auf den Einwand, die könne er sich doch vom Preisgeld kaufen, antwortet er, er wolle dafür nicht bezahlen. Die wohl richtige Erwiderung, auch die Veranstalter müssten dafür bezahlen, offenbart den Nihilismus des „Long Walks“: An seinem Ende stehen keinesfalls Ruhm, Ehre und Ansehen, käuflich ist in den USA des „Majors“ alles.
Einer schließlich, den die Vierergruppe schon anfangs skeptisch beäugt hat, der sportliche, attraktive Stebbins (Garrett Wareing) – er war der einzige der jungen Männer, dem der „Major“ Glück beim Aufbruch gewünscht hatte – offenbart den Wunsch, den er im Falle seines Sieges äußern würde. Ein spätes Geständnis bringt ans Licht, dass er der uneheliche Sohn des Militärs ist. Der muskulöse Blondschopf möchte nur einmal bei seinem Vater zum Tee eingeladen werden.
Existenzialistische Ethik
Die verschärfte existenzielle Situation, in der sich das ganze Feld der Marschierer wiederfindet – jeder stirbt für sich allein und wahrscheinlich sehr bald – motiviert in der Vierergruppe eine fast existenzialistische Ethik: Nicht nur helfen die „Musketiere“ sich gegenseitig, denn nur der Moment zählt, nicht, was gleich danach kommen mag, auch versuchen sie, denen zu helfen, die straucheln. Letztlich vergeblich natürlich, und so erhält gerade der Benjamin der Gruppe, von dem Ray und Peter anfänglich gemutmaßt hatten, er habe bei seinem Alter gemogelt, um teilnehmen zu können, als Erster sein „Ticket“. Das ist schwer anzusehen.
Schwerer ist es, mitanzuhören, wenn Curley (Roman Griffin Davis) schluchzt – „Das ist nicht fair“ –, bevor eine Kugel seinen Kopf zerfetzt. In einem Interview hat Regisseur Lawrence verraten, für Stephen King sei es nicht verhandelbar gewesen, die Exekutionen im Film auszusparen. „Todemarsch“ ist in Deutschland ab 16 Jahren freigegeben, und manch Zuschauer mag sich, je weiter sich die Gruppe der Läufer ausdünnt, in einem Dilemma wiederfinden, das die jungen Männer selbst in einem Gespräch thematisieren: Hoffentlich gewöhne er sich an die Erschießungen, sagt einer. „Hoffentlich nicht“ ist die Antwort eines anderen.
Unter dem Namen Richard Bachmann erschien 1982 auch ein anderer Roman Kings, dessen Story jetzt zum Film wird. „The Running Man“ kommt, in der Regie von Edgar Wright, im November in die Kinos. Auch hier geht es um eine Fernsehshow, in der über Leben und Tod entschieden wird: Gejagt von sogenannten „Stalkern“ muss sich ein Kandidat beweisen, oder er stirbt. Gesendet wird das, um das Volk ruhig zu halten, Buch und Film aktualisieren wie „The Long Walk“ die Gladiatorenspiele im alten Rom.
Von 1987 gibt es bereits einen gleichnamigen Film – mit Arnold Schwarzenegger in der Titelrolle. Vergleicht man den Streifen, der von Kings Vorlage freilich sehr stark abweicht, mit „The Long Walk“, dann fällt die fast humoristische Brutalität in dem in düsterer „Blade Runner“-Optik gehaltenen Eighties-Film auf. Dem Zuschauer stellt sich bei diesem Vergleich vielleicht eine ähnliche Frage wie den hoffnungslosen Helden von „The Long Walk“: Was ist besser, mit kessen Sprüchen kommentierte, comicartig gezeichnete Gewalt oder schreiende Jungen, deren Beine von Panzerketten zerquetscht werden, die beim Defäkieren auf die Straße von einer Kugel getötet werden? Was stumpft ab, was sensibilisiert?
Stephen King schrieb seinen Roman bereits in den 1970er-Jahren, noch das massenhafte Sterben junger Amerikaner in Vietnam vor Augen. Heute wird man – nicht zuletzt, weil Francis Lawrence auch für vier Filme aus der „Tribute von Panem“-Reihe verantwortlich zeichnet – an „The Hunger Games“ denken, wenn man sich die gesellschaftlichen Laborbedingungen, die „The Long Walk“ schildert, vor Augen führt. Oder an die südkoreanische Serie „Squid Game“.
In beiden Fällen geht es ebenfalls um Wettkämpfe, die den Besiegten das Leben kosten, bei den „Hunger Games“ steht ihr Charakter als politisches Herrschaftsinstrument im Vordergrund, während „Squid Game“ zeigt, was Menschen für Geld zu tun bereit sind. Beides verbindet „The Long Walk“ zu einem ausweglosen Szenario, in dem erzwungenes Einzelkämpfertum und Autoritarismus Hand in Hand gehen. Der Film lebt dabei nicht zuletzt von der spartanischen Kameraarbeit und der schauspielerischen Leistung Cooper Hoffmans, aber vor allem David Jonssons, bei dem man den Theaterschauspieler, als der er seine Karriere begann, in jeder Geste spürt.
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