Lange erwartet, ist er nun endlich da, der neue Roman von Bestsellerautor Dan Brown (61). Komisch daran ist nur: Es handelt sich bei der 800-Seiten-Schwarte keinesfalls um einen Roman, sondern um etwas gänzlich anderes. Das ist aber nur eine der vielen Falschmeldungen, mit denen sich Leser von „The Secret of Secrets“ herumschlagen müssen:
Erste Falschmeldung: Noetik sei eine Wissenschaft.
Schon in Dan Browns Thriller „Das verlorene Symbol“ spielte das in Kalifornien beheimatete „Institute of Noetic Sciences“, das sich der Erforschung parapsychologischer Phänomene widmet, eine große Rolle. Gegründet wurde dieses Institut von dem Ex-Astronauten Edgar Mitchell, der, weil er bei der Mondlandung von mystischen Gefühlen übermannt wurde, hinterher an Ufos und außersinnliche Wahrnehmungen glaubte. Sein Geldgeber war Paul Nathaniel Temple, ein Milliardär und fundamentalistischer Christ. In Dan Browns neuem Buch „The Secret of Secrets“ wird das Institut von Katherine Solomon vertreten. Sie ist nicht nur schön und geht mit dem Helden Robert Langdon ins Bett, sondern verkündet auf Schritt und Tritt auch tiefe Weisheiten à la „Alles hängt irgendwie mit allem zusammen“.
Zweite Falschmeldung: Es könne zu viel wissenschaftliche Skepsis geben.
Doch, das glaubt Dan Brown allen Ernstes! „Irgendwann wird die Skepsis selbst irrational“, behauptet er an einer Stelle in Kursivschrift. Die wissenschaftliche Skepsis wird in Dan Browns Roman von Dr. Birgita Gessner vertreten; im Unterschied zu Katherine Solomon ist sie keineswegs schön, sondern ein berechnendes Biest, das teuflische Menschenexperimente veranstaltet. Dan Browns „Da Vinci Code“ richtete sich noch gegen den katholischen Klerus, der angeblich die Wahrheit über Jesus unterdrücke. „The Secret of Secrets“ aber richtet sich in seinem Kern gegen das wissenschaftliche Denken an sich. Vielleicht hatte Gilbert Keith Chesterton doch recht, als er schrieb: „Wer aufhört, an Gott zu glauben, der glaubt nicht an nichts, sondern an alles.“
Dritte Falschmeldung: Alle Religionen sagen, dass Seelen unsterblich seien.
Auf diese Idee kann nur ein Christ kommen. Für Buddhisten ist das Ziel des Lebens das Nirwana, das heißt: das große Nichts. Hindus denken zwar, dass alle Kreaturen ans „Rad der Wiedergeburt“ geflochten sind, halten das aber für eine Katastrophe. Ein paar Juden, die sich zu viel mit Kabbala beschäftigt haben, glauben ebenfalls an gilgulim, also Wiedergeburten; die Mehrheit der Juden, auch der frommen, glaubt das aber keineswegs. Taoisten halten den Tod für das Ende und finden angesichts dieser Tatsache, es sei das Wichtigste, mit allen Lebewesen in Harmonie zu existieren.
Vierte Falschmeldung: Das „Stargate Project” sei ein durchschlagender Erfolg gewesen.
Das „Stargate Project“ wurde von 1977 bis 1995 betrieben. Es handelte sich dabei um 15 bis 20 Leute in einer zugigen Baracke im amerikanischen Irgendwo, die versuchten, die Parapsychologie für militärische Zwecke nutzbar zu machen. Die Sowjets unternahmen ähnliche Versuche; die Amerikaner wollten diesen Rüstungswettlauf nicht verlieren. Am Ende wurde das Projekt wegen Verdachts auf groben Unfug eingestellt. Ein Beteiligter, der Oberstabsfeldwebel Joseph McMoneagle, behauptete allerdings hinterher, es sei amerikanischen Testspionen gelungen, aus ihrem physischen Körper hinauszuschweben und fremde Gespräche zu belauschen; naturgemäß glaubt Dan Brown dem Oberstabsfeldwebel aufs Wort. Außerdem ist McMoneagle überzeugt, der Mensch stamme nicht von affenähnlichen Wesen, sondern von Seerobben ab, die von Aliens medizinischen Experimenten unterworfen wurden. Ob Dan Brown ihm auch hierin folgt, verrät er uns in „The Secret of Secrets“ leider nicht.
Fünfte Falschmeldung: Das menschliche Gehirn sei viel zu klein, als dass es all das leisten könnte, was es leistet.
Man kann nur hoffen, dass nicht allzu viele Hirnforscher ihre Nasen in „The Secret of Secrets“ stecken. Es ermüdet sehr, ein Buch wieder und wieder an die Wand zu werfen. Das menschliche Gehirn besteht, laut der letzten Zählung, aus 86 Milliarden Neuronen. Jedes einzelne Neuron bindet sich mit tausend bis 10,000 Synapsen an andere Neuronen; in der Summe ergibt das 100 bis 500 Milliarden synaptische Verbindungen. Gewiss, das Gehirn ist noch sehr wenig verstanden. (Ein berühmter Neurologe sagte einst: „Wenn das Gehirn Paris ist, befinden wir uns mit unserem Verständnis erst im Anflug auf den Flughafen Orly.“) Aber die Idee, das Gehirn sei zu klein, um seine Aufgaben zu erfüllen, und wir müssten deshalb zu parapsychologischen Erklärungen greifen, ist lachhaft.
Sechste Falschmeldung: Nahtoderfahrungen seien der Beweis für ein Leben nach dem Tod.
Viele Leute, die schon einmal klinisch tot waren, erzählten hinterher, sie hätten sich als Geister außerhalb ihres Körpers bewegt, seien ihn ein großes Licht geschwebt, von Engeln und toten Verwandten empfangen worden, hätten am Ende die liebende Gegenwart Gottes erfahren. Eben Alexander – ein Neurochirurg, der wegen einer Hirnhautentzündung ins Koma fiel und eine erschütternde Nahtoderfahrung hatte – schrieb darüber einen Bestseller, in dem er behauptete, er habe jetzt den Beweis für die Existenz des Himmels: Seine Großhirnrinde sei während des Komas nicht aktiv gewesen, ergo könne es sich nicht um eine täuschende Vision gehandelt haben. Der britische Neurologe Oliver Sacks erhob dagegen den Einwand, die Großhirnrinde des Mannes könne sehr wohl in jener kurzen Zeit aktiv gewesen sein, in der Eben Alexander ins Koma fiel. Aus wissenschaftlicher Sicht können Nahtoderfahrungen sehr gut mit dem Serotoninspiegel während des Sterbevorgangs und der Aktivierung körpereigener Halluzinogene erklärt werden. Über ein Leben nach dem Tod sagen sie nichts aus.
Siebte Falschmeldung: Die Quantentheorie stelle einen Persilschein dafür aus, auf wissenschaftliche Standards wie die Reproduzierbarkeit von Experimenten zu verzichten.
Die Quantenphysik ist rätselhaft. Sie konfrontiert den Verstand mit zutiefst verwirrenden Phänomenen, etwa dem Doppelspaltexperiment, in dem die Messung einen Einfluss auf die reale Welt zu haben scheint, oder der Quantenverschränkung, bei der zwei Teilchen über weite Strecken mittels einer „spukhaften Fernwirkung“ (Albert Einstein) auf unbegreifliche Weise miteinander verknüpft sind. Aus diesem Grund ist der britische Astrophysiker Roger Penrose davon überzeugt, sie sei falsch; eine bessere Theorie müsse die Quantenphysik ersetzen. Auf jeden Fall ist die Quantentheorie aber kein Grund, auf wissenschaftliche Standards (Reproduzierbarkeit von Experimenten, Falsifizierbarkeit von Hypothesen) zu verzichten. Dan Brown führt in seinem Roman eine Reihe von Physikern auf, etwa Harold Puthoff, die wegen der Quantentheorie an übersinnliche Phänomene glauben. Was er nicht dazusagt: Als der Scharlatan Uri Geller das Labor von Harold Puthoff besuchte und ihm vorführte, wie schön er Löffel verbiegen konnte, fiel Puthoff sofort darauf herein.
Achte Falschmeldung: Das Mittelalter sei finster gewesen, und die Leute hätten damals gedacht, die Erde sei eine Scheibe.
Das Mittelalter war eine der erfindungsreichsten Zeiten der Weltgeschichte – damals erblickten das Licht der Welt: der auf Rädern rollende Pflug, das Dreifeldersystem, die Weinpresse, die Fußbodenheizung, der Kamin, die Ölmalerei, die Windmühle, der Kompass, die Brille. (Und dabei haben wir noch gar nicht über die Araber und das „Haus der Weisheit“ in Bagdad gesprochen.) In Europa wurden so viele Städte gegründet wie nie, und Städte wurden zum ersten Mal in der europäischen Geschichte wirtschaftlich produktiver als ihr Umland. In den Städten entstanden riesige Kathedralen, und keine einzige von ihnen wurde von Sklaven gebaut. Bis heute ist nicht eine Quelle aufgetaucht, die belegt, dass irgendein Mensch des Mittelalters nicht gewusst hätte, dass die Erde eine Kugel ist. (Der berühmte Holzschnitt mit dem Mann, der seinen Kopf durch die Sphären steckt und auf die Welt außerhalb schaut, ist eine Fantasterei aus der Zeit des Jugendstils.) Hexen wurden im Mittelalter keine verbrannt – das geschah erst in der frühen Neuzeit. All dies weiß Dan Brown nicht, oder es interessiert ihn nicht: Er hält an seinem naiven Geschichtsbild fest, dass jede Epoche besser, fortschrittlicher und klüger gewesen sei als die Epoche davor.
Neunte Falschmeldung: In Prag finde ein unaufhörliches Riesenkostümfest statt.
„The Secret of Secrets“ spielt in Prag. Für seinen Plot ist Dan Brown darauf angewiesen, dass niemandem ein Mensch auffällt, der als Golem verkleidet durch die Gegend läuft. Also tut Dan Brown so, als sei es normal, nachts in Prag als Golem herumzulaufen. Es ist nicht normal.
Zehnte Falschmeldung: Die multiple Persönlichkeitsstörung sei dadurch zu erklären, dass tote Personen von einer lebenden Person Besitz ergriffen.
Multiple Persönlichkeitsstörungen waren der Hit in der Psychologie der Neunzigerjahre. Verschiedene Leute schienen im Körper von ein- und demselben Menschen zu leben; sie sprachen mit unterschiedlichen Stimmen, hatten unterschiedliche Persönlichkeiten, wussten nichts voneinander. Mittlerweile sind Psychologen dazu übergegangen, von einer „Dissoziativen Identitätsstörung” (DIS) zu sprechen. Diese werde, so zumindest eine These, von therapeutischen Suggestionen hervorgerufen. Eine Studie ergab, dass Leute, die eine DIS simulierten, nicht von Leuten unterschieden werden konnten, die mit einer DIS diagnostiziert worden waren. Also: kein Ensemble von Personen, die sich gemeinschaftlich in einem Körper tummeln, sondern Schauspielerei, um dem Therapeuten zu gefallen. In Dan Browns jüngstem Roman jedoch führt ein schweres Kindheitstrauma dazu, dass eine junge Frau sich zeitweise in ihren starken, männlichen Beschützer verwandelt. Noch schlimmer: Jener Beschützer ist in Wahrheit ein Toter, der aus dem Jenseits nach ihr greift. Dieses hält Dan Brown für wissenschaftlich.
Die elfte und folgenreichste Falschmeldung ist aber, es handle sich bei „The Secret of Secrets“ um einen Roman.
Ist es nicht. Es handelt sich um einen weltanschaulichen Traktat, der notdürftig als Roman verkleidet wurde. Die Beschreibungen lesen sich samt und sonders, als seien sie bei Wikipedia abgeschrieben worden: Nichts wird lebendig, nichts atmet, nichts leuchtet. Die Romanfiguren werden von Spiralfedern angetrieben: Der Autor dreht hinter ihrem Rücken den großen Aufziehschlüssel, dann rasen sie mechanisch in den Bahnen los, die der Plot ihnen vorgibt. Kein Satz, der keine Plattitüde wäre. (Kafka ist „ein geheimnisvoller jüdischer Schriftsteller“. Prag wirkt „wie aus der Zeit gefallen“. Der jüdische Friedhof in Prag „dient als stummer Chronist für die Intoleranz der Menschheit“.) Die Adjektive sind auf beinahe erschütternde Art erwartbar: Ideen sind „bahnbrechend“ bzw. „ungewöhnlich“, ein Frühstück ist „üppig“, Kirchturmspitzen sind „schneebedeckt“. Und all dies steht im Dienst einer Botschaft, die man nur als gegenaufklärerisch bezeichnen kann.
Einem weiteren Millionenerfolg steht somit nichts im Weg.
Dan Brown: The Secret of Secrets. Aus dem amerikanischen Englisch von Dietmar Schmidt und Rainer Schumacher. Lübbe, Köln. 800 S., 32 Euro.
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