„Verlorene Illusionen“, der Titel von Honoré de Balzacs berühmtestem Roman eignet sich auch als Überschrift für die gegenwärtige Epoche der französischen Geschichte. Schließlich wird ganz Frankreich konfrontiert mit den enttäuschten Illusionen, eine wohlhabende Weltmacht zu sein, deren Kultur und Lebensart mindestens der ganzen Welt zum Vorbild dient.
Damals, in den postnapoleonischen Jahren ab 1830, lässt Balzac ein urfranzösisches Individuum, den ehrgeizigen Aufsteiger, Maulhelden und Journalisten Lucien Chardon, stellvertretend für sein Volk die ganze Bandbreite der Lebenslügen durchleiden. Zu Recht legendär sind Balzacs Schilderungen der intriganten und korrupten Literaturszene von Paris – das sind zeitlose Verhältnisse im Kulturbetrieb.
Wie ein genüsslicher Vivisekteur lässt der Autor seinen Helden um sein Leben schreiben, lässt ihn Stück für Stück seine Überzeugungen verraten, seine Liebe verkaufen, politisch gegen Bezahlung die Seiten wechseln, bis er zum Schluss bereit ist, an die eigenen Lügen zu glauben. Was ihm allerdings gar nichts hilft, denn letztendlich wird er von mächtigeren Intriganten bis aufs Hemd ruiniert.
Dieser zynische Entwicklungsroman beschreibt eine prototypische Lebensreise aus der Provinz (hier in Gestalt des piefigen Städtchens Angoulême) in die so verlockende wie unerbittliche Weltmetropole an der Seine. Balzac, an der Loire aufgewachsen, hat diese Erfahrung eines Provinzlers wie vieles andere in diesem Epochenbuch, dessen Pariser Schauplätze man heute noch nachgehen kann, am eigenen molligen Leibe durchgemacht: Die Schüchternheit des modisch zurückgebliebenen Liebhabers einer erfahrenen Dame – diese Konstellation wurde sein Schicksal. Die Kniffligkeiten des Druckereigewerbes – Balzac ging als Verleger grandios pleite.
Gleichzeitig ist dieses böse Buch aber auch eine Ode an die Freundschaft, und auch die wurde dem unfassbar lebensgierigen Gourmand Balzac zuteil, ob mit neidlosen Rivalen wie Victor Hugo, der an seinem Totenbett wachte, oder der männerverzehrenden Georges Sand, mit der unser Autor vorgeblich im Bett nur Zigarren geraucht haben will. Balzacs ganze Biografie, seine Genialität im Schuldenmachen, sein Hass auf die widerliche Frau Mama, seine von Unmengen Kaffee gepushte Gefräßigkeit, die er in Gestalt von Zigtausenden Romanseiten in gerade einmal 19 Schaffensjahren wieder ausschied, seine nicht kaputtzukriegende Passion für Frauen, die ihn bis Moskau und in die Ukraine trieb – all das macht ihn zu Recht zu einem Liebling der Franzosen.
Und nicht vergessen: Die verlorenen Illusionen handeln stets auch von verlorenem Geld. Unternehmer ruinieren heimtückisch ihre Konkurrenz, Liebende fälschen Schecks, Autoren verkaufen für einen Hungerlohn ihre Seele, Eltern betrügen die eigenen Kinder. Der französische Franc macht alle Figuren dieser „menschlichen Komödie“ unfrei. Heute heißt die Münze zwar Euro. Doch die drohende Pleite einer Nation, die grandios über ihre Verhältnisse lebt, hat alle Illusionen überlebt.
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