Erzählt ein Roman die Geschichte eines Menschen, dann besteht die Kunst darin, im Besonderen das Allgemeine sichtbar zu machen. Schlechte Romane bleiben entweder im Besonderen, Zufälligen, Beliebigen, Konkreten stecken oder sie degradieren ihre Figuren zu bloßen Verkörperungen abstrakter Prinzipien. Einem Meistererzähler wie Abdulrazak Gurnah gelingt es, das Allgemeine und das Besondere so zu verbinden, dass der Gegensatz gar nicht spürbar wird. Auch in seinem neuen Roman „Diebstahl“, dem ersten seit der Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis 2021.

Als Badar, der junge Manager eines schicken Boutiquehotels in Sansibar, per Google Maps eine Straße in London abläuft, fällt ihm etwas an den Häusern auf: „Alle sahen gleich aus, und dann auch wieder nicht. Die Haustüren hatten beispielsweise unterschiedliche Farben. Die erste im Bild war in der Farbe eines milchigen Kakaos lackiert, den es heutzutage nirgendwo mehr zu kaufen gab, den man der Legende nach aber früher am Kiosk des alten Habib in Forodhani bekommen hatte.“

Einige Türen in der Gemstone Street in London NW3 waren weiß, manche grün, andere grau, und dann entdeckt er „in der Ferne sogar eine in Gold; vermutlich wohnten dort besonders exaltierte Leute, Künstler vielleicht.“ Hinter jeder Tür verbirgt sich eine andere Geschichte, und doch verbindet sie alle etwas: Geschichten aus London, dem einstigen Zentrum eines Imperiums, zu dem auch Sansibar gehörte.

Dass Badar, zu Beginn von „Diebstahl“ ein 13-jähriger Waisenjunge vom Dorf mit nur rudimentärer Schulbildung, die Hauptfigur des Romans ist, lässt Gurnah den Leser nicht sofort merken. Er nimmt sich viel Zeit, um die Wurzeln, die Kindheit und das Heranwachsen einiger Menschen zu erzählen, deren Bedeutung für das Leben Badars erst später deutlich werden – in einem Fall sogar erst auf der allerletzten Seite dieses trügerisch locker, tatsächlich aber hochpräzise komponierten Romans.

Seine Geschichte setzt in den 60er-Jahren ein, der Ära von Unabhängigkeit und Revolution, als Sansibar mit Tanganjika, dem früheren Deutsch-Ostafrika, zu Tansania vereinigt wurde. (Gurnah floh als Angehöriger der entmachteten und nun verfolgten arabischen Oberschicht 1968 nach England). Diese in anderen Romanen (wie „Ferne Gestade“) ausführlicher erzählten historischen Ereignisse bilden hier nur den Hintergrund für die erzwungene Heirat eines jungen Mädchens, Raya, mit einem älteren Geschäftsmann. Nach dem Scheitern ihrer Ehe beginnt Raya ein neues Leben in der Hauptstadt Daressalam und lässt ihren Jungen Karim bei den Großeltern aufwachsen – er erweist sich als glänzender Schüler und Student, vor dem eine Laufbahn im Staatsdienst liegt.

Badar wird in den neuen Haushalt Rayas in Daressalam als Diener aufgenommen und dort de facto wie ein Leibeigener behandelt. Karim, der die Mutter gelegentlich besucht, wird zu seinem Mentor. Für den klugen, aber bescheidenen Badar verkörpert der gewandte Selfmademan Karim den für ihn selbst unerreichbaren sozialen Aufstieg. Ein ihm gegenüber verschwiegener Makel seiner Herkunft scheint Badar zu einem Leben in Abhängigkeit zu verdammen.

Als er – fälschlicherweise – einer Unterschlagung beschuldigt wird, ist es Karim, der Badar dann nach Sansibar mitnimmt, wo er – wir sind inzwischen in den späten 90er-Jahren – im Hotelfach seinen eigenen Weg findet. Parallel wird die Bildungsgeschichte von Fauzia erzählt, einer hochbelesenen Schönheit, die dem Charme Karims verfällt. Die beiden werden ein Paar und gründen eine Familie.

Drei miteinander verwobene Bildungsgeschichten also. Der zentrale Konflikt entspinnt sich dann um Karim, der in Badars Hotel die Engländerin Geraldine Bruno kennenlernt, die in Sansibar für eine NGO arbeitet. Eine altbekannte Story: Ein ehrgeiziger junger Mann ist überfordert mit seiner Rolle als Familienvater und flüchtet sich in eine Affäre; die frustrierte Ehefrau sieht ihr Leben vor die Wand gefahren.

Gurnahs Gespür für die kleinen und großen Machtgefälle unterläuft diese klassische Story durch einen postkolonialen Subtext: Hinter dem Interesse und der Kulturbeflissenheit Brunos verbirgt sich eine latent rassistische Herablassung, der das Leben der Einheimischen im Grunde gleichgültig ist. Für eine aufregend-exotische Erfahrung legt sie Karims Leben in Trümmer.

Bei der Bildung ertappt

Der „Diebstahl“ des Titels steht ganz konkret für die falschen Vorwürfe an Badar, die sich später bei Karim wiederholen. Doch auch die Aneignung eines ihm vermeintlich verbotenen Wissensschatzes wird von Badar einmal als illegal empfunden: „… als er Karims Blick bemerkte, faltete er die Zeitung schnell zusammen und legte sie auf den Boden, als hätte man ihn bei einem Diebstahl ertappt“.

Doch ist „Diebstahl“ zugleich eine Metapher für den Ausverkauf des eigenen Landes an die Touristen und „selbstlose“ Entwicklungshelfer. Als Badar einmal einem dänischen Gästepaar nicht helfen kann bei der Suche nach dem Haus eines dänischen Gewürzhändlers im 19. Jahrhunderts, bekommt er eine enttäuschte Reaktion: „Tja, mein Junge, es ist wirklich zu schade, dass du dich nicht für deine eigene Geschichte interessierst.“ Badar fragt sich bei einem anderen NGO-Gast aus England, welche Aufgabe sie wohl „während der guten alten Kolonialzeit gehabt hätte“. Bei den Touristen „war so etwas Gebieterisches, Distanziertes in ihrem Gesicht, selbst wenn sie lächelten“.  

Als die weltoffene und viel gereiste Geraldine Bruno mit Badar, dem Hotelangestellten, scheinbar auf Augenhöhe über die Unterschiede von London und Sansibar plaudert, sagte er einmal leichthin, er kenne ihr Viertel, er habe Fotos im Netz gesehen und erst vor ein Tagen dort spazieren gegangen. „Es sollte scherzhaft klingen, aber sie wirkte irritiert. Fotos, wiederholte sie fast mitleidig. Sie saßen einen Moment schweigend da. Was war bemitleidenswert daran, sich Bilder im Internet anzusehen? Eines Tages würde er vielleicht tatsächlich reisen.“ Gurnahs Bild zeigt das Besondere, aber darin eben auch das Allgemeine.

Abdulrazak Gurnah: „Diebstahl“. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Penguin, 336 Seiten, 26 Euro.

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