Als der franko-algerische Schriftsteller Kamel Daoud (55) im vergangenen Jahr für seinen Roman „Huris“ mit dem Prix Goncourt, dem wichtigsten der französischen Literaturpreise, ausgezeichnet wurde, war es für ihn wie „sechs Richtige im Lotto“. Er war erst ein Jahr zuvor ins französische Exil gegangen. „Huris“ ist in Algerien verboten, weil der Roman vom islamistischen Bürgerkrieg handelt. Diesen zu thematisieren, steht in Algerien unter Strafe. Sein Verlag wurde von der algerischen Buchmesse ausgeladen.

Obwohl niemand in Algerien „Huris“ gelesen haben kann, begann eine Hetzjagd der algerischen Presse gegen den 55-jährigen Schriftsteller. Eine Frau wirft ihm vor, ihre Geschichte benutzt zu haben, und erstattete wegen Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte Anzeige. Es folgten zwei internationale Haftbefehle. Noch ist unklar, ob sich Daoud in Frankreich vor Gericht verantworten muss. Wir trafen ihn in den Räumen seines Pariser Verlagshauses Gallimard.

WELT: Monsieur Daoud, wurden Sie von den Attacken überrascht?

Kamel Daoud: Nein, ich schreibe seit Jahrzehnten, seit Jahrzehnten sind sie hinter mir her. Bei all meinen Büchern war es immer eine Mischung aus Erfolg und Attacken. Als „Der Fall Meursault“ erschien, hat ein Imam eine Fatwa gegen mich verhängt. Bei „Zabor“ haben sie mehrere Male das Grab meines Vaters geschändet. Dieses Mal ist die Diffamierung besonders verletzend und beleidigend. Aber weil der Prix Goncourt enorm ist, das war mir von Anfang an klar, würden auch die Attacken gegen mich enorm sein. „Huris“ erschien am 16. August letzten Jahres. Zwei Tage später folgten die ersten Leitartikel, mit denen die Hetzjagd auf mich begann. Ich bin erschöpft. Irgendwann kommt man an den Punkt, an dem man aufgibt. Ich, aber auch andere Schriftsteller wie mein Freund Boualem Sansal, sind das Epizentrum der gestörten Beziehung Algeriens zum Rest der Welt. Wir sind das Symptom dieser Störung.

WELT: Wie geht es Sansal, haben Sie Neuigkeiten?

Daoud: Nein, niemand weiß, wie es ihm geht.

WELT: Er ist eine Art Geisel im verpesteten Verhältnis zu Frankreich?

Daoud: Richtig.

WELT: Und der internationale Druck kann nichts ausrichten?

Daoud: Ich war von Anfang an pessimistisch. Man muss sich immer fragen, was seine Inhaftierung dem Regime bringt. Im Augenblick zieht das Regime daraus größeren Nutzen als aus seiner Freilassung.

WELT: Aber er ist über 80 und krebskrank. Glauben Sie wirklich, dass das Regime ihn im Gefängnis sterben lassen könnte?

Daoud: Ja.

WELT: Hätte Ihnen auch Gefängnis gedroht, wenn Sie geblieben wären?

Daoud: Das Regime hat viele Schriftsteller oder Aktivisten „unter die Lupe“ genommen, wie wir das nennen. Spätestens, wenn man zum „Café“ eingeladen wird, weiß man Bescheid. Es ist ein Warnschuss. Ich wollte meine Heimat nie verlassen. Aber wenn es ernst wird und Gefängnis droht, packt man seine Koffer und geht.

WELT: Warum sind Sie als Schriftsteller dem Regime ein Dorn im Auge?

Daoud: Weil ich eine Ausnahme bin. Weil ich mich nicht auf das Spiel des Postkolonialismus einlasse. Weil ich den Islamismus anprangere. Weil ich auf die Lage in der arabischen Welt hinweise. Weil ich die Unterdrückung der Frauen nicht ertrage. Bei „Huris“ kamen mehrere Faktoren zusammen. Der Autor ist ein Franco-Algerier, der Roman ist auf Französisch geschrieben, er ist mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis ausgezeichnet worden und er handelt von einem Krieg, den man verschweigen will. Am Ende hatte ich drei Gruppen gegen mich: Die Islamisten, die für die Massenverbrechen verantwortlich sind. Das Regime, weil es nur überleben kann, wenn es den Hass gegen Frankreich schürt und die ehemalige Kolonialmacht für alles verantwortlich macht. Und die Intellektuellen des Postkolonialismus, die finden, dass ich vom falschen Krieg erzähle, vom Bürgerkrieg, nicht vom Befreiungskrieg.

WELT: Die Protagonistin ihres Romans, Aube heißt sie, ist stumm, weil die Islamisten ihr die Kehle durchgeschnitten hatten. Kann dieser verdrängte, verschwiegene Krieg nur von einer stummen Frau erzählt werden?

Daoud: Das ist das Paradox: Wenn wir sehr großen Schmerz empfinden, verstummen wir. Wir brauchen Zeit, um die Trauerarbeit zu leisten. Trauer heißt, Worte zu finden. Manchmal braucht man dafür 20 Jahre, manchmal 20 Tage oder zwei Stunden. Etwas zu verarbeiten heißt, eine Sprache dafür zu finden. Der algerische Bürgerkrieg ist nicht erzählt worden. Wenn sie mit Menschen reden, die ihn erlebt haben, herrscht erst einmal Schweigen, weil es ein verbotener und verdrängter Krieg ist, für den wir uns schämen. Es gibt meines Erachtens kein anderes Land auf der Welt, das die Erinnerung an einen Krieg verbietet. Stellen Sie sich vor, nach 1945 wäre es in der Bundesrepublik verboten gewesen, über die Nazizeit zu schreiben oder nachzudenken. Es gibt in Algerien acht bis zehn Romane über diese Zeit, die alle vor dem Verbotsgesetz veröffentlicht wurden. Zehn Romane über zehn Jahre Krieg!

WELT: Im Epigraf zitieren Sie den Artikel 46 des algerischen Strafgesetzbuches. Danach sind Sie ein Verbrecher.

Daoud: Ja, ich bin ein Krimineller, deshalb verfolgen sie mich. Doch den Roman zu schreiben, ist nicht das Verbrechen, diesen Krieg unter den Teppich zu kehren, ist kriminell.

WELT: Aube sagt im Roman, dass sie der lebendige Beweis für die Verbrechen sei. Liefert die Literatur nicht genau denselben Beweis wie die Narbe dieser Frau?

Daoud: Ich stimme Ihnen zu. Ich wollte, dass die Narbe, die Aube trägt, sichtbar wird und Sinn entfaltet. Damit wollte ich auch den vielen Toten meine Ehre erweisen. Aber vor allem wollte ich erzählen, wie man sich für das Leben entscheidet. Ich wünschte mir, Algerien hätte denselben Mut wie Aube und würde den Verbrechen ins Gesicht sehen. Wenn so viele Menschen gestorben sind, fragt man sich, ob man normal weiterleben darf, ob man lieben, tanzen und ein Kind zur Welt bringen kann.

WELT: Aube redet mit ihrem ungeborenen Kind, das sie „Huri“ nennt. Gleichzeitig bezeichnen die Islamisten so die Nymphen im Jenseits. Der Titel, „Huris“, steht im Plural. Vermischen Sie bewusst die religiösen und erotischen Schichten?

Daoud: In den religiösen Schriften sind das immer mehre Nymphen, nie eine einzelne. Man muss sich das wie ein Bordel des Jenseits vorstellen. Freitags, wenn in Oran die Gebete losgingen und die Straßen leer gefegt sind, fuhr ich mit dem Auto durch die Gegend und hörte über die Lautsprecher den Predigten der Imame zu. Sie beschrieben immer die Frauen im Jenseits. Aber die Frauen sind hier, vor unseren Augen, wir müssen sie hier im Diesseits respektieren und lieben. Dort, wo ich wohnte, lag ein Friseursalon genau gegenüber einer Moschee. So entstand die Idee, die Frauen der Wirklichkeit mit den religiösen Ideen der Islamisten zu konfrontieren.

WELT: Saâda Arbane, eine Überlebende des Bürgerkriegs, trägt wie Aube eine Narbe am Hals und hat sie wegen Missachtung ihrer Privatsphäre angeklagt. Sie behauptet, Sie hätten ihre Geschichte gestohlen. Was ist an den Vorwürfen dran?

Daoud: Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Erstens ist das nicht die Geschichte dieser Frau. Zweitens ist es eine Fiktion, keine Biografie, sondern ein Roman. Drittens gab es nicht nur einen einzigen Fall wie den ihren, sondern unzählige Verletzte, die überlebt haben. Es geht dabei einzig und allein darum, mich zu destabilisieren. Madame Arbane ist dafür instrumentalisiert worden. Ähnliches ist dem Fotografen Hozine Zaourar passiert, als er 1997 für die „Madonna von Bethalha“ mit dem World Press Photo ausgezeichnet wurde. Auch er wurde diffamiert. Erst wurde behauptet, dass das Foto gestellt ist, dann, dass es manipuliert wurde. Dann wurde die arme Frau in die Öffentlichkeit gezogen, die behauptet hat, dass der Fotograf ihr Leben gestohlen habe. Zaourar ist nie darüber hinweggekommen. Solche Fälle, dass jemand sich in einem Film oder einen Roman wiedererkennen zu glaubt, gibt es immer wieder. Aber in Algerien steht das ganze Regime dahinter. Mit den vielen Anzeigen und Prozessen wollen sie mich zermürben. Aber ich bin auch stolz, dass ich der einzige Schriftsteller bin, gegen den wegen eines Romans zwei internationale Haftbefehle ausgestellt wurden.

WELT: Was heißt Schreiben für Sie?

Daoud: Schreiben gibt meinem Leben Sinn. Schreiben heißt, träumen, sich frei fühlen. Das ist der Moment, wo ich mit mir im Reinen bin. Die Existenz ist beängstigend, wir wissen nicht, warum wir leben. Wenn ich schreibe, weiß ich es. Nach jedem Roman sage ich mir, ich höre auf, der Preis, den ich bezahlen muss, ist zu hoch. Meine Mutter ist vor vier Wochen gestorben. Ich habe sie nicht beerdigen können. Ich war am Boden zerstört und habe mich gefragt, ob es das wirklich wert ist? Das Regime hat mir mein Land weggenommen, meine Heimat, meine Familie. Sie werfen mir vor, Algerien verraten zu haben. Aber es ist Algerien, das seine Intellektuellen verrät. Sie verjagen uns, weil wir im Kampf um die intellektuelle Führung stören und durch Islamisten ersetzen werden sollen. Sie tun alles, um uns zu diskreditieren.

WELT: Sie haben Algerien einmal als „verfluchtes Paradies“ bezeichnet …

Daoud: Es ist ein wunderbares Land mit einer tausendjährigen Geschichte, in dem die Dekolonialisierung exemplarisch war, aber am Ende ist es wie mit einem Menschen, dem alles gelingt, der aber trotzdem versagt. Die algerische Jugend versucht in Schaluppen das Mittelmeer zu überqueren, sie riskieren ihr Leben. Mir wird gern vorgeworfen, dass mich der Westen fasziniert. Ich antworte dann: Ja. An dem Tag, wo Menschen in Schlauchbooten in Marseille aufbrechen, um nach Algerien zu gelangen, ändere ich meine Meinung. Die Menschen hier habe keine Vorstellung davon, was eine Diktatur ist. Das Glück sorgt für Amnesie.

WELT: Warum schreiben Sie auf Französisch?

Daoud: Weil es meine Sprache der Träume ist. Als ich klein war, gab es neun Bücher bei mir zu Hause. Die ersten Bücher, die ich gelesen habe, die mich in eine Traumwelt eingeladen haben, waren alle auf Französisch. Es ist in Algerien keine Fremdsprache, nur für die Puristen des Dekolonialismus ist sie das. Aber auch sie können das Französische nicht auslöschen.

WELT: Sie gelten in Algerien als Franzose, in Frankreich als „schlechter Araber“. Wie erklären Sie sich das?

Daoud: Das liegt daran, dass ich nicht die übliche postkoloniale Suppe serviere und behaupte, dass an allen Problemen Algeriens Frankreich schuld ist. Der Rassismus der Linken hier in Frankreich besteht darin, dass sie uns zum Schweigen verurteilen und an unserer Stelle sprechen wollen.

WELT: Präsident Emmanuel Macron hat 2017 von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesprochen und einen Aufarbeitungsprozess angeregt. Doch das Verhältnis von Frankreich und Algerien war noch nie so schlecht wie heute, Sansal ist das Opfer dieses Konflikts. Warum ist Macron mit der Versöhnung gescheitert?

Daoud: Weil jeder etwas anderes will. Frankreich will die Aufarbeitung. Das ist zwingend, wenn man die Parallelgesellschaften nicht bestärken und eine geeinte Nation bleiben will. Andersherum bringt Algerien die Versöhnung mit Frankreich nichts. Im Gegenteil. Das Regime bezieht seine Legitimität aus diesem Konflikt. Es feuert ihn regelmäßig an, um zu überleben. Der imaginäre Krieg mit Frankreich erlaubt ihm, in die Verlängerung zu gehen, wie man beim Fußball sagt.

WELT: Sehen Sie einen Ausweg?

Daoud: Ich bin pessimistisch. Die Islamisten sind die einzige politische Kraft in Algerien. Sie sind die einzigen, die ein Projekt haben. Sie haben die Gewerkschaften, die Universitäten und die Schulen unterwandert. In den Schulen fabrizieren sie die Islamisten von morgen. Die Demokraten interessieren sich dafür nicht, sie verausgaben sich mit der Frage des Postkolonialismus.

Kamel Daoud: Huris. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. 398 Seiten. Matthes & Seitz.

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