Unsere Arbeit hier am Lido von Venedig wollen wir nicht direkt mit jener der Geheimdienstoffiziere im Situation Room des Weißen Hauses vergleichen, während eine Atomrakete auf Chicago zurast. Aber ein paar Parallelen gibt es doch. Kaum 20 Minuten bleiben in Kathryn Bigelows „A House of Dynamite“, bis der nukleare Sprengkopf zehn Millionen Seelen auslöschen und die Vereinigten Staaten ins Chaos stürzen wird.

In hektischen Schnitten heftet sich der Film an die Fersen seiner vielen Protagonisten, vom Sicherheitsberater bis zum Präsidenten (Idris Elba). In Windeseile – die Rakete fliegt mit sechs Kilometern pro Sekunde – durchlaufen sie die Phasen der Trauer nach Elisabeth Kübler-Ross: Verleugnung, Wut, Verhandeln, Depression, Akzeptanz.

Der Abfangversuch geht fehl. Kein Wunder – es ist, als wolle man eine Gewehrkugel mit einer anderen treffen. Die Erfolgsquote liegt bei 60 Prozent. Wie der Chef des Pentagon in der Videokonferenz, der zentralen Bühne der Handlung, wütend bemerkt: „Dafür haben wir 50 Milliarden Dollar ausgegeben? Für einen verdammten Münzwurf?“

Kürzlich hat er seine Frau begraben. Einmal noch telefoniert er mit seiner entfremdeten Tochter in Chicago. Er weiß um ihren sicheren Tod, sagt aber nichts. Wozu auch? Tieftraurig wünscht er ihr einen schönen Tag – und stürzt sich vom Dach des Verteidigungsministeriums. Währenddessen rufen seine Untergebenen die Russen an, die jede Verantwortung von sich weisen. Ebenso die Chinesen. Der Präsident ist nicht zu erreichen. Er wird von seinen Bodyguards aus einem PR-Auftritt in einem Basketballstadion eskortiert, wo er öffentlichkeitswirksam gepunktet hat. Minutiöse Evakuierungspläne treten in Kraft. Wenigstens eine Handvoll Entscheidungsträger soll den atomaren Weltkrieg überleben – die Generäle drängen den Präsidenten zum präventiven Gegenschlag –, im Raven Rock Mountain Complex, dem Atombunker der Regierung.

Kaum zu glauben, aber einem Reporter auf dem Filmfestival Venedig geht es ähnlich. Das Zeitfenster vom Aus-dem-Bett-Fallen bis zum Aufschlag im Kino ist genauso unbarmherzig. Um kurz vor sieben klingelt der Wecker. Sofort greift das Biennale-Playbook: duschen, anziehen, doppelter Espresso in der Bar nebenan, in zwei Zügen an der Theke weggeschlürft, Rucksack packen mit Laptop, Wasserflasche, Vaporetto-Ticket, Fahrradschlüssel, Festivalakkreditierung. Die letzten beiden baumeln um den Hals wie der „Biscuit“ im Kreditkartenformat, den der US-Präsident stets am Körper trägt. Die Geheimcodes darauf (Delta, Bravo, Foxtrott, 1, 1, 1, 7) schalten den Atomkoffer frei. Die Optionen für einen Gegenschlag, abgestuft nach ihrer Radikalität, heißen „well done, medium, rare“, als wolle man Bistecca alla Fiorentina brutzeln und nicht die ganze Welt.

Weiter im Stechschritt zum Wasserbus. Sirupartig dehnt sich die Zeit, bis er endlich herangeschaukelt kommt. Aus der Ferne sieht das Bötchen pittoresk aus. Von Nahem entpuppt es sich als venezianische Antwort auf die Tokioter U-Bahn, bloß wackeliger. Dutzende Akkreditierte – Produzenten, Verleiher, Rechtehändler, Festivalkuratoren und last but not least die Kritiker – drängeln sich hinter der Reling. Mitunter kommt es zu wüsten Szenen am Kai, als wären wir die Matrosen des im Nordpolarmeer festgefrorenen Expeditionsschiffes aus Guillermo del Toros „Frankenstein“ – die in heilloser Flucht versuchen, das Deck zu erreichen, bevor das Monster angreift.

All die Schöngeister – im Kino üben sie Moral, etwa in François Ozons gediegener Verfilmung von Camus’ „Der Fremde“ oder in Jim Jarmuschs öder Familienaufstellung „Father Mother Sister Brother“. Auf dem Weg zum Kino gehen sie über Leichen.

Eine Erkenntnis aus Bigelows Meisterwerk, das nahtlos anknüpft an ihre rasend intelligenten Analysen des Machtverlusts der Amerikaner in „The Hurt Locker“ (2008) und „Zero Dark Thirty“ (2012): All die raffinierten Pläne für das Szenario eines Atomkriegs sind gemacht, um nie umgesetzt zu werden. Konfrontiert mit der nuklearen Katastrophe kann der Präsident nur stammeln: „Es ist Wahnsinn.“ Und ein General so trocken wie hilflos versetzen: „Es ist die Wirklichkeit.“

Gegen Ende des Wettbewerbs, bei dem 21 Filme um den Goldenen Löwen konkurrieren, beschleicht einen der Verdacht, Bigelows düstere Diagnose an der Realität zerschellender Pläne lasse sich auf das Festival als Ganzes übertragen. Auf dem Papier strotzt das Programm vor Selbstbewusstsein: Noah Baumbachs „Jay Kelly“ mit George Clooney und Adam Sandler, Jarmuschs „Father Mother Sister Brother“ mit Cate Blanchett, Adam Driver, Charlotte Rampling und Tom Waits, del Toros „Frankenstein“ mit Oscar Isaac, Mia Goth, Jacob Elordi und Christoph Waltz, Bigelows „House of Dynamite“ mit Idris Elba und Rebecca Ferguson, Yorgos Lanthimos’ „Bugonia“ mit Emma Stone, Benny Safdies „The Smashing Machine“ mit Dwayne Johnson und Emily Blunt, Olivier Assayas’ „The Wizard of the Kremlin“ mit Paul Dano, Jude Law und Alicia Vikander sowie Park Chan-wooks „No Other Choice“ mit dem „Squid Game“-Star Lee Byung-hun

Das klingt wie ein Who’s Who zeitgenössischen Filmschaffens, eine Sneak-Preview der kommenden Oscars. Und doch enttäuschen sie mehrheitlich. Das liegt weniger an mangelnder Raffinesse der Regie, des Tons, des Schnitts. Das Problem ist die emotionale Dynamik. Beschriebe der dramatische Bogen ihrer Handlungen den Parabelflug eines aus Nordkorea abgeschossenen Sprengkörpers, er plumpste kurz hinter Japan ins Meer.

Nehmen wir „Smashing Machine“, fast so brillant gemacht wie Bigelows atemloser Actionfilm, in dem bis auf die Rakete keine einzige Kugel abgefeuert wird. Dwayne „The Rock“ Johnson hat so viel Schminke im Gesicht, dass es sich auf der Waage bemerkbar machen dürfte. Er spielt ein anderes Urgestein, den Mixed-Martial-Arts-Pionier Mark Kerr, der mithalf, den brutalen Sport, bei dem fast alles erlaubt ist, in den USA zu etablieren. Sicher ein netter Kerl. Er hat seinen Gegnern im Ring ein paar Mal, Pardon, die Fresse poliert. Ein paar Mal hat er verloren. Zu Hause zetert Emily Blunt als üppig befingernagelte Freundin. Kerrs Schicksal verdeutlicht gut den Unterschied von Erlebnis und Ereignis. Erlebnis ist alles. Ereignisse kommen seltener vor. Sie weisen über sich selbst hinaus und dienen als Anker von Geschichten. Eine Reihe von Erlebnissen sind reines Treibgut, wie es ein paar Meter vor dem Festivalpalast regelmäßig angeschwemmt wird. Warum aber muss ein Stück fauliges Holz gleich eine Einladung in den Wettbewerb bekommen?

Ähnlich ist es in Assayas’ gescheitertem Putin-Biopic „The Wizard of the Kremlin“. Mit verführerischem Understatement spielt Paul Dano den Spin Doctor, der den verrückterweise vom schönen Jude Law verkörperten Diktator an die Macht bugsiert. Jeder Schauspielerpreis geht in Ordnung. Aber die Story! So brav und unentschlossen, als würde der Regisseur unentwegt an den Fingernägeln knabbern.

ChatGPT-Prompt für Drehbücher

Oder Jarmuschs Vollkatastrophe. Einen „Anti-Action-Film“ habe er drehen wollen, behauptet der Regisseur. Das ist ihm gelungen. Das einzig Tödliche ist die Langeweile, die er verursacht. Während Adam Driver und Tom Waits Plattitüden austauschen, hat man gefühlt tausend Jahre Zeit, sich den ChatGPT-Prompt zu überlegen, auf dem das Drehbuch basiert: „Bitte schreib mir drei sinnlose Kurzfilme über dysfunktionale Kleinfamilien mit mindestens einem toten Elternteil. Verbinde sie durch zufällig aus der Luft gegriffene Motive: Autos, eine Rolex, Skateboarder in Zeitlupe, eine Farbe und die Redewendung ‚and Bob’s your uncle‘ – auf Deutsch ungefähr ‚und alles ist geritzt‘“. Leider ist hier gar nichts geritzt. Der Film ist eine Bankrotterklärung, als hätte er eine Woche lang in den so mittelprächtigen wie hochpreisigen Restaurants am Lido zu Abend gegessen.

Und der Grieche Lanthimos, für „Poor Things“ gefeiert, liefert mit „Bugonia“ einen verschwörungstheoretischen Rohrkrepierer ab, in dem die wundervolle Emma Stone sich ganz umsonst den Schädel rasiert. Zum Glück gibt es auch erfreulichere Filme.

Wenn wir uns festlegen müssten: Goldener Löwe für Bigelow, Großer Preis der Jury für Park Chan-wooks Sozialsatire „No Other Choice“, in der sich ein arbeitsloser Papier-Ingenieur gezwungen sieht, die Konkurrenz zu ermorden. Offenbar möchte Park, der südkoreanische Gigant, an Bong Joon-hos „Parasite“-Erfolg anküpfen. Das geht auf, auch wenn knallharte Thriller eher sein Genre bleiben als groteske Komödien.

Unter den ehrenvollen Erwähnungen: „Jay Kelly“, eine Schnulze mit George Clooney, die reflektiert, was wichtig ist im Leben und zu dem konsensfähigen Schluss kommt: nicht die Kohle, nicht der Sex mit dahergelaufenen Hand-Models, sondern die Familie. Dann das altmeisterliche CGI-Schlachtfest „Frankenstein“. Beide sind, wie auch „House of Dynamite“, von Netflix produziert, das hier oft ausgebuht wird, weil die Snobs die Streamer nicht mögen, aber in diesem Jahr einen Lauf hat.

Gegen Ende kommt noch der aktivistische Erpressungsversuch „The Voice of Hind Rajab“ der Tunesierin Kaouther ben Hania. Er spielt im Januar 2024 in der Telefonzentrale des Roten Halbmonds im Westjordanland. Ein Anruf geht ein: Ein fünfjähriges Mädchen ist in Gaza im Auto eingeschlossen. Panzer der israelischen Armee rollen auf sie zu. Sechs Familienmitglieder liegen tot neben ihr. Es wird Stunden dauern, bis sie ihr Schicksal teilt. Die verzweifelten Telefongespräche basieren auf realen Aufnahmen. Hinds eingespielte Stimme ist echt. Die Rettung scheitert, weil, so suggeriert es der Film, die Israelis keinen Korridor öffnen. Eine Ambulanz wird beschossen. Die Fahrer sterben. Der Film, der die Kommandozentralen-Perspektive mit „House of Dynamite“ teilt, ist holprig inszeniert und dramaturgisch so schwach, dass der erwartete Horror ausbleibt. Gleichwohl handelt es sich um die politischste Intervention in einem verzagt wirkenden Wettbewerb. Am vergangenen Wochenende liefen Tausende Pro-Palästina-Demonstranten grimmig die Strandpromenade hinunter. In der aufgeheizten Stimmung ist ein Preis für den Film nicht ausgeschlossen.

George Clooney und Cate Blanchett sind längst zu Hause. Fast könnte man den Eindruck haben, als hätten sie im Situation Room des Gegenwartskinos das Licht ausgemacht.

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